Vom Sokół-Verein zu Dariusz Wosz – Polnischer Sport in Bochum
Für den VfL Bochum traten in den Bundesligajahren seit 1963 neun polnische Athleten an. Wohl nicht von ungefähr kamen mit Andrzej Iwan (1987-1989), Tomasz Waldoch (1994-1999) und Henryk Bałuszyński (1994-1998) drei der ersten vier polnischen Spieler aus Zabrze (Hindenburg), dem Zentrum des Oberschlesischen Bergbaugebietes nach Bochum. Ihr Klub Górnik Zabrze trägt stolz den „Górnik“ (deutsch „Bergmann“) im Namen.[23] Für die Fans waren dies Spieler für den „Pott“ mit Malocherimage und „Kohle in der DNA“, denn der Aufstieg von „Górnik“ hing in Schlesien eng mit der Kohleindustrie zusammen.[24] Waldoch, später mit Schalke 04 zweifacher DFB-Pokalsieger, und Bałuszyński spielten in der Zeit des größten Erfolges, als die Bochumer 1997 in der Abschlusstabelle der Bundesliga auf dem 5. Platz landeten und einen Platz im UEFA-Pokal erreichten. Gegen Trabzonspor schoss der früh verstorbene Bałuszyński das erste Bochumer UEFA-Cup Tor überhaupt. Zu den ersten Polen im Bochumer Dress zählte auch Maciej Śliwowski (1990/91). Danach kamen Andrzej Rudy (1995/96), der sich noch „illegal“ 1988 in den Westen abgesetzt hatte und den Udo Lattek „den polnischen Beckenbauer“ nannte[25], dann Jacek Ratajczak (1998-2000), Thomas Zdebel (2003-2009), Marcin Mięcel (2007-2009), Piotr Ćwielong (2013-2016) und Paweł Dawidowicz (2016/2017).[26]
Die Bochumer Ikone Dariusz Wosz, der von 1992-1998 und von 2001-2007 für den VfL spielte und 41 Tore erzielte, ist trotz seines sarmatischen Namens kein „authentischer“ Pole, sondern Spross der deutschen Minderheit aus Schlesien, der als Übersiedler nach Halle und in die DDR-Nationalmannschaft, im Kontext der Vereinigung schließlich nach Bochum und noch zu 17 Einsätzen in der bundesdeutschen Nationalmannschaft kam.[27] Wosz ist beim Bochumer Verein derzeit weiter in verschiedenen Funktionen tätig.[28]
Beim zweiten Bundesliga-Verein im Bochumer Stadtgebiet, der SG Wattenscheid 09, wurde Marek Leśniak als Goalgetter der Jahre 1992-1995 mit 25 Toren eine ähnliche Legende. Leśniak war 1988 der jüngste Spieler, der von der polnischen Administration für einen Profiauftritt im Westen freigegeben wurde. Der Staat brauchte dringend Devisen.[29] Im Jahr 2010 kehrte er als Trainer für wenige Monate zurück. Andere Verpflichtungen aus Polen waren Mirosław Giruc (1994/95), Michał Probierz (1995-1997) und Krzysztof Kasak (2013/2014).[30]
Die Geschichte des polnischen Sports in Bochum und Wattenscheid spiegelt so, wie im ganzen Ruhrgebiet, die Geschichte der polnischen und der masurischen Migration, damit die Identitätsprobleme der Migrantinnen und Migranten, die sich häufig erst in Rheinland-Westfalen durch Fremd- und dann durch Selbstzuschreibung als Polen definierten. Sie machten sich über drei Generationen, schwer getroffen von säkularen Katastrophen, wie den zwei Weltkriegen und der zutiefst polenfeindlichen Nazidiktatur, auf einen konfliktreichen Weg zu einem Leben in Deutschland. Im Prozess der Aussiedlerpolitik und der Globalisierung des Elitefußballs kamen dann in Polen gebürtige Athleten aus der deutschen Minderheit wie z. B. Dariusz Wosz, aber nach der politischen Wende in der Mehrheit polnische Spieler, als Professionals nach Deutschland. Wie die Bochumer Profis Tomasz Waldoch und Henryk Bałuszyński, beförderten sie die Mythen des Ruhrgebietsfußballs[31], der von der Beziehung zwischen regionalen Identitätsentwürfen und dem Rasensport mit seinen leibhaftigen Protagonisten lebt.[32] Heute sind in der Bundesrepublik nach Schätzungen ca. 2 Millionen Menschen mit polnischer Familienbiographie ansässig, das sind etwa 2,5 % der Bevölkerung.[33] Die Geschichte der Zuwanderung, aber auch die Sportgeschichte der Zugewanderten[34] ist ein elementarer, prägender Teil der deutschen Geschichte und der Bochumer Stadtgeschichte geworden[35].
Diethelm Blecking, Januar 2021
[23] Der erste polnische Spieler in der Bundesliga, Piotr Słomiany, der von 1967-1970 für Schalke spielte, wechselte auch von „Górnik“ ins Revier. (https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/aus-dem-puett-die-profiliga-polen-und-masuren-im-ruhrgebietsfussball, Zugriff am 26.12.2020).
[24] Über Fußball in Schlesien und Górnik Zabrze siehe Radoslaw Zak, Der Fluch des schwarzen Goldes, in: Ballesterer Fußballmagazin 149 (2020), S. 17-21.
[25] Urban, Thomas, Schwarze Adler/Weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen 2011, S. 154, weitere Informationen über seine auch für den Boulevard interessante Karriere im Westen S. 153-157.
[26] https://www.weltfussball.de/teams/vfl-bochum/10/.
[27] Über Wosz siehe Urban, 2011, S. 161-163.
[28] https://www.vfl-bochum.de/news/uebersicht/verein/alles-gute-dariusz-wosz/ (Zugriff am 27.12.2020).
[29] Vgl. Urban, 2011, S. 152.
[30] https://www.weltfussball.de/teams/sg-wattenscheid-09/10/.
[31] Zum Mythos Ruhrgebiet und der Rolle des Fußballs siehe das Interview mit Diethelm Blecking, in: Ballesterer Fußballmagazin 149 (2020), S. 29-31 und Blecking 2019, S. 29.
[32] Vgl. Stefan Goch, Zwischen Mythos und Selbstinszenierung: Fußball im Ruhrgebiet und das Image der Region, in: Westfälische Forschungen 2013, S. 103-118.
[33] Vgl. zu dieser kaum wahrgenommenen Evidenz und zu einer Gesamtgeschichte dieser großen Bevölkerungsgruppe Loew, Peter Oliver, Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland, München 2014.
[34] Nützlich zur Einführung in die Zusammenhänge von Migration und Fußball ist der Begleitkatalog zu einer Ausstellung des LWL-Industriemuseums im Jahre 2015: LWL-Industriemuseum (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet, Essen 2015.
[35] Schade, 2009, weist allerdings, was die Bochumer Stadtgeschichte angeht, auf die Defizite in der Geschichtsschreibung und Geschichtsvermittlung hin. Er erkennt in diesem Kontext weiter bestehende Stereotypen und sieht „die Darstellung der masurischen und polnischen Einwanderung bis auf sehr wenige Ausnahmen durch Weglassen oder Oberflächlichkeit, häufig auch durch negative Stereotype geprägt.“ (S. 51).