Vom Sokół-Verein zu Dariusz Wosz – Polnischer Sport in Bochum
Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte im Revier für die polnische Gemeinschaft zu einer völlig veränderten Situation. Die Gründung eines polnischen Nationalstaates im November 1918 veränderte nach dem Ende des Krieges den Spielraum der polnischen Minderheit: Durch Abwanderungen nach Polen, nach Nordfrankreich und Belgien, kam es zu einer Halbierung ihrer Zahl bis 1929. Gleichzeitig war die nationalpolnische Orientierung keine angemessene politische Option mehr. Der Sport, eben auch der Fußballsport, hielt jetzt Einzug in die Turnorganisation. In der Saison 1920/21 wurde bereits in 52 Vereinen Fußball gespielt. Am 18. Dezember 1921 wurde in Recklinghausen das erste Endspiel um die Fußballmeisterschaft der Sokółn ausgetragen, Castrop gewann gegen den Bochumer Sokół-Verein Linden 3:2.[14] Im Januar 1927 zogen die polnischen Sportler eine Konsequenz aus dieser politischen Situation und strichen die Wörter „polnisch“ und „Sokół“ aus dem Verbandsnamen. Die Organisation firmierte jetzt unter dem Etikett „Verband der Turn- und Sportvereine aus Westfalen und dem Rheinlande“ und trug Spiele mit deutschen Klubs aus.[15]
Die Integration in die deutsche Gesellschaft bis hin zur Assimilation erschien vielen Menschen in der Community nun als rationale und vernünftige Wahl. Die Mitgliedschaft im Fußballverein war gerade im Revier eine praktische Handlungsmöglichkeit. In der Meisterschaftsrunde 1937/38 standen in den Gauligen Westfalen und Niederrhein 68 Spieler mit polnischen Namenswurzeln in den Teams.[16] Der Zivilisationsbruch durch die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeutete jedoch bald das Ende des organisierten polnischen Sports und der polnischen Organisationen in ganz Deutschland. Im Sommer 1939 wurden ihre Räume in der Klosterstaße in Bochum besetzt und das Vermögen beschlagnahmt[17], die endgültige Liquidierung wurde bezeichnenderweise durch eine Verordnung des „Ministerrates für die Reichsverteidigung“ am 27.2.1940 geregelt[18]. Funktionäre, auch aus Bochum, wurden während des Krieges ermordet oder kamen im KZ um.[19]
Die deutschen Nationalspieler aus dem Ruhrgebiet mit polnisch klingenden Namen waren dann nach dem Zweiten Weltkrieg ohne jede wirkliche Erinnerung an historische Vorgänge Teil der sportjournalistischen Fußball-Folklore und anekdotischer Geschichten. Die Geschichte von Segregation und Integration, für die auch die historische Realität des polnischen Sports in Bochum steht, wurde fragmentiert und unsystematisch zum Kapitel eines beschönigenden Narrativs, das von einem konfliktfreien Zusammenleben von Migranten und ansässiger Bevölkerung beim gemeinsamen Fußballspiel ausging. In dieser harmonisierten Form geriet die Geschichte der polnischen Minderheit auch in den politischen Diskurs.[20]
Eine neue Phase in der Beteiligung polnischer Spieler am Bochumer Fußball und am Ruhrgebietsfußball läutete dann die verspätete Einführung des professionellen Fußballs und die Gründung der Bundesliga in der Saison 1963/64 ein. Teil dieser dringend notwendigen Modernisierung des deutschen Fußballs war auch die Aufhebung des Verbots für den Frauenfußball im Jahre 1970. Bereits seit den 1950er Jahren hatten Frauen im Revier im Sinne des DFB nicht „legale“ Vereine, Spiele, ja sogar eine „Nationalmannschaft“ organisiert. Darunter Frauen aus masurischen und polnischen Zuwandererfamilien wie Brunhilde Zawatzky aus Dortmund und Lore Karlowski aus Essen.[21] Jetzt konnte tatsächlich jede und jeder, der Talent besaß, mitmachen. Anfang der 1970er Jahre war deshalb der Arbeiteranteil unter den deutschen Elitefußballern zum ersten Mal so hoch wie ihr Anteil in der Gesellschaft[22], der Mythos vom „Arbeitersport“ Fußball wurde zumindest partiell eingelöst. Der bezahlte Fußball machte es möglich. Gleichzeitig wurde der deutsche Markt attraktiv für ausländische Profis, damit auch für polnische Spieler. Seit Ende der 1980er Jahre erteilte der polnische Staat Freigaben für eine Karriere im Westen, einige Athleten setzten sich auch ohne diese Freigabe bei Auslandsaufenthalten in den Westen ab.
[14] Blecking, 1990, S. 195.
[15] Blecking, 1990, S. 197.
[16] Vgl. für diese Phase Blecking, Diethelm, Aus dem Pütt in die Profiliga. Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball (https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/aus-dem-puett-die-profiliga-polen-und-masuren-im-ruhrgebietsfussball, Zugriff am 26.12.2020)
[17] Schade, Wulf, Verkrüppelte Identität. Polnische und masurische Zuwanderung in der Bochumer Geschichtsschreibung, in: Bochumer Zeitpunkte 23 (2009), S. 25-51, hier S. 34 (https://www.kortumgesellschaft.de/tl_files/kortumgesellschaft/content/download-ocr/zeitpunkte/Zeitpunkte-23-2009OCR.pdf, Zugriff am 27.12.2020).
[18] Blecking, 1990, S. 207, Anm. 3.
[19] Schade, 2009, S. 33-34.
[20] Positive Bestimmungen des Sports als Vehikel der Integration mit Rekurs auf das „Vorbild“ der „Ruhrpolen“ finden sich bei Helmut Schmidt als Kanzler, Wolfgang Schäuble als Innenminister und Johannes Rau als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Siehe Diethelm Blecking, „Sport and Immigration in Germany“, in: The International Journal of the History of Sport, Vol. 25(2008), S. 955-973, hier S. 956 und S. 967, Anm. 10.
[21] Vgl. mit weiterer Literatur Blecking, Diethelm, Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund. Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-3(2019), S. 24-29, hier S. 28-29 (https://www.bpb.de/apuz/283266/fussball-und-zuwanderung-im-ruhrgebiet?p=all, Zugriff am 29.12.2020).
[22] Eisenberg, Christiane, „Deutschland“, in: Eisenberg, Christiane (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997, S. 115-116.