Mithu M. Sanyal
Sanyals Themen sind vielfältig und oft im Zentrum drängender Fragen des Miteinanders: Identität, Rassismus, Sexismus und postkoloniales Erbe. Sie tritt mit diesen aufgeladenen Themen nicht als streng urteilende Moralistin auf, sondern als neugierige und leidenschaftliche Kämpferin für die Emanzipation aller von menschenfeindlichen Mythen und einschränkenden Vorstellungen. Ihrer Aussage nach kommen die Themen zu ihr, sie hält lediglich die Tür dafür offen. Und bei jedem Buch denkt sie: „Jetzt habe ich alles gesagt, was ich zu sagen habe. Jetzt habe ich den letzten weißen Fleck auf der Karte unseres Weltwissens gefüllt, und es gibt nichts mehr, worüber ich schreiben kann.“
So ging es Sanyal, nachdem sie ihr erstes Buch fertiggestellt hatte: „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“. Das Buch entstand aus einer Doktorarbeit, mit der Sanyal an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität im Fach „Deutsche Literatur“ promovierte. Herausgekommen ist eine etwas andere Kulturgeschichte des Abendlandes, in deren Zentrum das üblicherweise tabuisierte und unsichtbar gemachte Genital steht, das wir häufig fälschlicherweise als Vagina bezeichnen. Gemeint ist die Vulva, die lediglich den sichtbaren Teil der Vagina umfasst. Vulva und Vagina zu verwechseln, entspricht also in etwa der Verwechslung von Penis und Hoden. Nach Fertigstellung des Manuskripts, dachte Sanyal, sie hätte alles aus sich herausgeholt, ein weiteres Buch würde sie nicht schreiben. Aber natürlich schrieb sie weiter für Zeitschriften und Zeitungen wie „Frankfurter Rundschau“, „Missy“, „Spex“ oder „Literaturen“, aber auch für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Es erscheinen Artikel von Sanyal über die metoo-Bewegung, über Sexarbeit, oder auch über die Neuübersetzung von Charlotte Brontës Klassiker „Jane Eyre“. Außerdem wird sie oft auf Panels und Podien eingeladen, folgt Lehraufträgen an Universitäten und verfasst Theaterstücke, etliche Radio-Features und bisher fünf Hörspiele für den WDR, bei dem sie seit 1996 als feste Autorin arbeitet. Nebenbei startete sie auch noch ihre „Mithulogie“-Kolumne in der „taz“, die sie im August 2019 einstellte, nachdem ihr die Hassnachrichten auf Twitter zu viel wurden.
Und trotz all dieser – und noch weiterer – Tätigkeiten, kam es anders, als Mithu Sanyal nach Fertigstellung ihres „Vulva“-Buches gedacht hatte: Ein zweites Mal versuchte sie ausgehend von einem einzigen Thema, sich und den anderen möglichst die ganze Welt zu erklären. So erschien 2016 ihr Buch „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ in der Edition Nautilus. Sanyal analysiert verbreitete Vorstellungen und Diskurse und entwickelt Perspektiven, wie Vergewaltigung gesellschaftlich verhindert werden kann. Das Buch darf als Standardwerk zu einem nach wie vor mit Tabus belegten Phänomens betrachtet werden.