Mithu M. Sanyal
Sanyals Großmutter kam nach dem Ersten Weltkrieg als Kind mit ihrer Familie aus Polen aus Zabrze nach Duisburg, wo damals noch Bergarbeiter gebraucht wurden. Das „Ich bin ein Marxloher Mädchen“ klingt Mithu Sanyal noch heute in den Ohren. Der Großvater wiederum kam aus der Nähe von Krakau. Seine Mutter starb früh an einer illegalen Abtreibung, und er wurde anschließend von Mönchen großgezogen. Bei ihnen lernte er verschiedene Blasinstrumente spielen und zeigte eine große malerische Begabung. Als er jedoch 1949 aus seiner Kriegsgefangenschaft in Russland heimkehrte, hörte er auf, Musik zu machen und zu malen. Als stolzer Vertreter der Arbeiterklasse, empfand er als Kulturbruch, als seine Tochter sich zur Sekretärin ausbilden ließ und Angestellte wurde. Da fiel es kaum noch ins Gewicht, dass sie einen „Schwarzen“ heiratete, genaugenommen einen Ingenieur, der seine bengalische Heimat verlassen hatte, um nach dem Studium in Deutschland sein Glück zu versuchen. Dort fand er, wie einige Bengalen in den 1950ern/1960ern Arbeit. Und auch eine Frau. Herr und Frau Sanyal wollten eine Familie gründen, aber Nachwuchs wollte sich nicht einstellen. Nach einigen erfolglosen Jahren rieten Ärzte dem Ehepaar die Hoffnung aufzugeben. Genau in diesem Moment wurde Frau Sanyal schwanger und kein Jahr später erblickte Mithu das Licht der Welt im Düsseldorfer Marienkrankenhaus.
Die Mutter eine polnischstämmige Frau aus der Arbeiterklasse, der Vater ein studierter Inder aus einer bengalischen Brahmanen-Familie, der höchsten und besonders gebildeten Kaste im Hinduismus: Mithu Sanyals Hintergrund könnte man in gewisser Hinsicht als „divers“ bezeichnen. Früh machte sie die Erfahrung, dass Menschen sie unbedingt einordnen wollten – meist falsch. Sie sagt: „Dass Menschen es zwanghaft nicht lassen konnten, mich irgendwo einordnen zu müssen – à la ‚oh du bist so rassisch‘ – hat mich schon immer nach wahren Sätzen suchen lassen.“ Mit „wahr“ meint Mithu Sanyal dabei vor allem: stimmig für sich und andere.
Ihr Mittel, um den wahren Sätzen auf die Spur zu kommen, war schon früh das Schreiben. „Ich habe schon geschrieben“, bevor ich schreiben konnte“, sagt sie und erzählt, wie sie ihrer Mutter ihre ersten Geschichten diktiert hat, die ihr heute noch peinlich sind. Schuld sei Enid Blyton gewesen: „Seit meine Mutter mir die ersten Enid Blyton Bücher vorgelesen hat, wollte ich Schriftstellerin werden.“ Mittlerweile hat Sanyal einen langen Essay über Blyton geschrieben, der auch die Rassismusdebatten rund um die englische Jugendbuchautorin behandelt. Erscheinen wird der Text im Herbst in der Anthologie „Canceln. Ein notwendiger Streit“ bei Hanser Literaturverlage.