Mithu M. Sanyal
„Vergewaltigung“ ist dann auch das Thema, das Sanyal den bisher größten Shitstorm ihres Lebens einträgt: Auf einer Lesung aus ihrem Buch erfährt sie von den zahlreich anwesenden Betroffenen sexualisierter Gewalt, dass sie den „Opfer“-Begriff als fragwürdige Schubladenaufschrift betrachten. Besser wäre es vielleicht, das im angelsächsischen Raum verbreitete „survivor“ einzudeutschen und „Überlebende“ zu sagen. Da das aber in Deutschland schnell Assoziationen zu Holocaust-Überlebenden wecken könne, schlugen die Anwesenden ihr den Begriff „Erlebende“ vor. Sanyal schrieb zu dieser Begriffsfindung gemeinsam mit Marie Albrecht einen Artikel in der „taz“. Was folgte waren Beschimpfungen, Vergewaltigungs- und Morddrohungen, die vor allem von rechten Websites befeuert wurden, die Sanyal vorwarfen, Vergewaltigung als super Erlebnis darzustellen. Dass dabei den Rechten die Vergewaltigungsopfer weniger wichtig waren als das verbale Niederknüppeln einer nicht weißen Feministin - Marie Albrecht blieb von dem Shitstorm verschont - ist keine allzu gewagte Spekulation. Mittlerweile hat der Shitstorm einen eigenen Corrective-Eintrag zur Richtigstellung nach sich gezogen.
Auch von Feministinnen bekam Sanyal damals Gegenwind und erlebte einmal mehr, dass es nicht DIE eine feministische Position und Gruppierung in Deutschland oder andernorts gibt. Die im Juli 2022 durch ein Interview der Zeitschrift „Annabelle“ mit Sophie Passmann neu entflammte Debatte um „weißen Feminismus“ treibt auch Sanyal um, denn weißer Feminismus ist ein Problem, auch wenn Passmanns nicht der Feind ist. Sanyal interessiert sich verstärkt für die Verbindung von Feminismen und Antikolonialismus respektive Postkolonialismus, wie sie in Indien eine wichtige Rolle spielt. Sanyal sagt: „In Polen ist es zum Beispiel Maria Janion, die in diesem Punkt viel leistet und mich sehr inspiriert.“
Zur Wahrnehmung des Nachbarlandes Polen durch die Deutschen sagt Sanyal: „Die Berichterstattung über unser Nachbarland hat oft den Charme, als würden wir über eine Bananenrepublik reden, nur ohne Bananen und dafür mit Frauenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit.“ Und auch wenn das für Sanyal in Hinblick auf den konservativen Backlash in Polen und Auswüchse wie dem Abtreibungsgesetz nicht ganz unverständlich ist – sie stört in der Perspektive auf Polen die Geschichtsvergessenheit der Deutschen: „Wer weiß beispielsweise, dass Polen bis 1993 eine der progressivsten Abtreibungsgesetzgebungen Europas hatte? Und wer weiß, dass Kolonialgeschichte nicht immer in exotischen Ländern stattfindet, sondern beispielsweise das Deutsche Kaiserreich auf eine koloniale Expansion nach Osteuropa gebaut hat?“
In Polen war Sanyal bisher nur selten. Sie bedauert sehr, dass sie es nicht geschafft hat, vor deren Tod mit der Mutter gemeinsam ins Land der Vorfahren zu reisen und Verwandte zu besuchen. Zum ersten Mal kam Sanyal auf Einladung des Polnischen Instituts zum Conrad Festival nach Krakau und fasst zusammen: „Das war großartig. Wir waren auch bei der Buchmesse und ich habe mir dort tolle selbstgestrickte Strümpfe gekauft. Krakau ist wahrscheinlich die schönste Stadt, in der ich jemals war.“