Kinderzwangsarbeit in Hessen – Die Geschichte von Tomasz Kiryłłow
In Wetzlar gab es mehrere Unternehmen, die Zwangsarbeitskräfte einsetzten. Die Firma Röchling-Buderus hatte im Frühjahr 1943 ein „Polenlager“ mit 60 bis 65 Personen; 1944 gab es in Wetzlar verschiedene Lager für Zwangsarbeiter:innen[17], darunter auch ein Werkslager mit 88 Polen und einer Polin[18]. Der 17jährige polnische Zwangsarbeiter Tomasz Kiryłłow musste bei der Firma Pfeiffer-Apparatebau für die Aufrüstung der Luftwaffe arbeiten. Er lernte Disziplin, Gewalt, Schreie und die zermürbende Arbeit in der Fabrik kennen. Er wurde im Beruf des Drehers ausgebildet und arbeitete den ganzen Tag auf einer Drehbank in der Fabrik am Fließband. In der Fabrik wie im Lager hungerte Tomasz Kiryłłow. Die Zwangsarbeiter:innen mussten jeden Tag (außer Sonntag) zwölf Stunden arbeiten.
Neben Hunger erlebte Tomasz Kiryłłow als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich auch offenen Hass:
„Müde, ausgehungert, mit dem erniedrigenden Abzeichen „OST“ auf der Brust, zogen wir in einer Kolonne durch die Straßen der Stadt. Wieder führten uns bewaffnete Wachleute. Auf dem Bürgersteig vorübergehende Menschen sahen uns verächtlich, mit offener Feindseligkeit an. Ein vielleicht siebenjähriger Junge spuckte in unsere Richtung. Wir begriffen nicht, woher dieser Haß kam. Niedergeschlagen kamen wir im Lager an. Wir wuschen uns flüchtig und stellten uns nach dem Abendbrot an. Wir bekamen je einen halben Liter dünner Suppe mit ein paar Kartoffeln auf dem Boden der Schüssel.“[19]
Traurigkeit, Heimweh und seelischer Schmerz wurden schnell zu Begleitern des Hungers: „Der Hunger quälte uns unbarmherzig. Wir sehnten uns nach den Eltern und der Freiheit.“[20] Wegen Apathie und einer Wunde meldete er sich im Krankenrevier des Lagers. Weil er immer weniger arbeitete und die von den Deutschen vorgesehenen Quoten nicht erfüllte, wurde Tomasz Kiryłłow am 14. Mai 1943[21] wegen angeblicher „Sabotage“ unter SS-Begleitung ins „Arbeitserziehungslager“ (AEL) Heddernheim[22] eingeliefert. Dort wurde er regelmäßig geschlagen. Er berichtet in seinen Erinnerungen, dass schwächere Zwangsarbeiter:innen in der Krankenstation des Lagers ermordet wurden:
„Einige Neue waren so eingeschüchtert, daß sie schnell arbeiteten. Sie wurden auch schnell so müde, daß sie sich kaum rühren konnten. Dann wurden sie von den SS-Leuten mit Kolben und Ochsenziemern so lange geschlagen, bis sie, blutüberströmt und voller Blutergüsse, das Bewußtsein verloren. Sie wurden ins Lager gebracht, wo man ihnen im Krankenrevier eine tödliche Phenolspritze gab.“[23]
Nach sechs Wochen Erziehungshaft wurde er am 3. August 1943 als „Arbeitsscheuer“ ins Konzentrationslager Buchenwald[24] verschleppt; er erhielt die Häftlingsnummer 14640.
[17] https://wetzlar-erinnert.de/ns-zwangsarbeit/neue-ausstellung/tafel-3/ (zuletzt abgerufen am 27.06.2023).
[18] Krause-Schmitt/ Freyberg 1995, S. 129.
[19] Kiryłłow 1985, S. 45.
[20] Ebenda, S. 47.
[21] Ebenda, S. 90.
[22] Vgl. Wehe, Friedrich: Das Arbeitserziehungslager Frankfurt-Heddernheim, in: Bembek, Lothar/ Schwalba-Hoth, Frank/ DIE GRÜNEN im Landtag (Hessen) (Hrsg.): Hessen hinter Stacheldraht. Verdrängt und vergessen. KZs, Lager, Außenkommandos, S. 85–95. Die Gedenkstätte liegt am Oberschelder Weg, wo sich das „Arbeitserziehungslager“ Heddernheim befand. Vgl. https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/4 (zuletzt abgerufen am 27.06.2023).
[23] Kiryłłow 1985, S. 88f.
[24] Karteikarten und individuelle Häftlingsunterlagen über Tomasz Kiryłłow sind „Kirylow“ in den Datensätzen des International Tracing Service (ITS) geschrieben: Häftlingskarte Tomasz Kirylow, Buchenwald, 6271861, ITS Digital Archive, Arolsen Archives. Vgl. https://collections.arolsen-archives.org/en/search/person/6271860?s=Kirylow&t=222836&p=1