Kinderzwangsarbeit in Hessen – Die Geschichte von Tomasz Kiryłłow

Auch polnische Kinder und Jugendliche wurden während des Zweiten Weltkrieges zur Arbeit im Deutschen Reich gezwungen.[1] In Hessen wird seit den 1980er Jahren beispielhaft an einen Fall eines polnischstämmigen Jugendlichen erinnert, der in Wetzlar Zwangsarbeit leisten musste und ins ehemalige „Arbeitserziehungslager“ Heddernheim (ein Stadtteil von Frankfurt am Main) geschickt wurde. Sein Name war Tomasz Kiryłłow. Der Verein Wetzlar erinnert e.V. organisierte diese Erinnerungsarbeit, es gibt Denkmäler und Gedenktafeln sowohl in Wetzlar[2] als auch in Heddernheim[3], wo das ehemalige „Arbeitserziehungslager“ ein Gedenkort geworden ist. Aber schon vor dem Fall der Berliner Mauer, im März/April 1987, war Tomasz Kiryłłow aus Polen zu Gedenkfeiern[4] nach Hessen gekommen, da seine Erinnerungen 1980 in Polen erschienen waren und 1985 in der DDR ins Deutsche übersetzt wurden[5]. Als Gast der IG Metall am 1. April 1987[6] erzählte er in der alten Werner-von-Siemens-Schule von seinen Erlebnissen in Wetzlar (heute Lahn-Dill-Kreis). Seit Anfang der 2000er Jahre sind neue Publikationen[7] über die Geschichte der Zwangsarbeit in Wetzlar erschienen und seit 2016 gibt es im Kreishaus des Lahn-Dill-Kreises eine Gedenktafel[8], die an die Zwangsarbeit in Wetzlar erinnert. Auch heute noch hält die Stadtverwaltung von Wetzlar die Erinnerung[9] an die Zwangsarbeit am Leben, obwohl nicht immer deutlich gemacht wird, dass sich unter den russischen, belarussischen und ukrainischen Zwangsarbeiter:innen auch Pol:innen befanden.
Tomasz Kiryłłow, geboren am 24. März 1925 in Soryki (heute Belarus), gehörte zu dieser Generation[10] von Zwangsarbeiter:innen. Er war eines von etwa 1,5 Millionen Kindern[11], die während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion[12] nach Deutschland verschleppt wurden. Sie arbeiteten in allen Bereichen der Industrie (auch in der Rüstungsindustrie), in der Land-, Forst- und Hauswirtschaft, im Handwerk und im Haushalt. Sie arbeiteten für private und staatliche Arbeitgeber und auch im Rahmen der Organisation Todt[13].
Die Geschichte von Tomasz Kiryłłow ist für die in der Zwischenkriegszeit geborene Generation durchaus typisch, weil in seiner Familie mindestens zwei Kulturen vereint waren, die polnische und die belarussische. Seine Familie lebte im nordöstlichen Teil der Zweiten Polnischen Republik, in Hlybokaje[14], als der Zweite Weltkrieg begann. Die Familie seiner Mutter war polnisch, er wurde nach katholischem Ritus getauft und erhielt einen polnischen Vornamen. Die Familie seines Vaters dagegen war belarussisch und orthodox. Tomasz Kiryłłow konnte neben Polnisch auch Russisch und Belarussisch sprechen. Der junge Tomasz war zudem des Französischen mächtig, weil er die ersten zehn Jahre seines Lebens, bis 1935, in Nordfrankreich verbracht hatte. Aus wirtschaftlichen Gründen waren seine Eltern in die Nähe von Lille und Valenciennes (Pas-de-Calais) migriert. Das polyglotte Aufwachsen und die vielseitigen Sprachkenntnisse von Tomasz Kiryłłow sollten sich später als sehr wichtig für seine Überlebensstrategien als Zwangsarbeiter erweisen.
Noch als Heranwachsender mit 17 Jahren verließ Tomasz Kiryłłow Anfang 1943 die Belarussische Sowjetrepublik mit dem Zug mit anderen Jugendlichen aus seiner Region. Aus Angst vor Repressalien gegen seine Familie, falls er sich dem deutschen Diktat verweigerte, versuchte er nicht vor Zwangsarbeit im Deutschen Reich zu fliehen. Nach einer mehrtägigen Fahrt kam er direkt in Hessen an: Die Endstation des Zuges war Kelsterbach, im Südwesten von Frankfurt. Schließlich, nach seiner Ankunft in Deutschland und einer ersten Nacht in einem Durchgangslager für „Ostarbeiter“[15] mussten Tomasz Kiryłłow und andere mit der Bahn nach Wetzlar an der Lahn fahren.
Der erste Eindruck weckte in ihm Erinnerungen an seine Kindheit in Frankreich:
„Wir gingen durch die Stadt. Die hohen, mehrstöckigen Häuser gefielen mir. Keiner von uns hatte bisher aus der Nähe eine so schöne Stadt gesehen. Über die breiten Asphaltstraßen eilten Autos, Motorräder und Fahrräder. Auf den Gehwegen drängten sich gut gekleidete Passanten. Die Geschäfte hatten große Schaufenster.“[16]
Im Lager in Wetzlar erfuhr er dann zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, mit einer Nummer und nicht mehr mit seinem Namen angesprochen zu werden. Tomasz Kiryłłow beobachtete außerdem ältere ausländische Arbeiter:innen, die die „OST“-Armbinde der „Ostarbeiter“ trugen. Bereits ab dem ersten Tag erlebte er, was es bedeutete, von bewaffneten Soldaten umgeben zu sein.
In Wetzlar gab es mehrere Unternehmen, die Zwangsarbeitskräfte einsetzten. Die Firma Röchling-Buderus hatte im Frühjahr 1943 ein „Polenlager“ mit 60 bis 65 Personen; 1944 gab es in Wetzlar verschiedene Lager für Zwangsarbeiter:innen[17], darunter auch ein Werkslager mit 88 Polen und einer Polin[18]. Der 17jährige polnische Zwangsarbeiter Tomasz Kiryłłow musste bei der Firma Pfeiffer-Apparatebau für die Aufrüstung der Luftwaffe arbeiten. Er lernte Disziplin, Gewalt, Schreie und die zermürbende Arbeit in der Fabrik kennen. Er wurde im Beruf des Drehers ausgebildet und arbeitete den ganzen Tag auf einer Drehbank in der Fabrik am Fließband. In der Fabrik wie im Lager hungerte Tomasz Kiryłłow. Die Zwangsarbeiter:innen mussten jeden Tag (außer Sonntag) zwölf Stunden arbeiten.
Neben Hunger erlebte Tomasz Kiryłłow als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich auch offenen Hass:
„Müde, ausgehungert, mit dem erniedrigenden Abzeichen „OST“ auf der Brust, zogen wir in einer Kolonne durch die Straßen der Stadt. Wieder führten uns bewaffnete Wachleute. Auf dem Bürgersteig vorübergehende Menschen sahen uns verächtlich, mit offener Feindseligkeit an. Ein vielleicht siebenjähriger Junge spuckte in unsere Richtung. Wir begriffen nicht, woher dieser Haß kam. Niedergeschlagen kamen wir im Lager an. Wir wuschen uns flüchtig und stellten uns nach dem Abendbrot an. Wir bekamen je einen halben Liter dünner Suppe mit ein paar Kartoffeln auf dem Boden der Schüssel.“[19]
Traurigkeit, Heimweh und seelischer Schmerz wurden schnell zu Begleitern des Hungers: „Der Hunger quälte uns unbarmherzig. Wir sehnten uns nach den Eltern und der Freiheit.“[20] Wegen Apathie und einer Wunde meldete er sich im Krankenrevier des Lagers. Weil er immer weniger arbeitete und die von den Deutschen vorgesehenen Quoten nicht erfüllte, wurde Tomasz Kiryłłow am 14. Mai 1943[21] wegen angeblicher „Sabotage“ unter SS-Begleitung ins „Arbeitserziehungslager“ (AEL) Heddernheim[22] eingeliefert. Dort wurde er regelmäßig geschlagen. Er berichtet in seinen Erinnerungen, dass schwächere Zwangsarbeiter:innen in der Krankenstation des Lagers ermordet wurden:
„Einige Neue waren so eingeschüchtert, daß sie schnell arbeiteten. Sie wurden auch schnell so müde, daß sie sich kaum rühren konnten. Dann wurden sie von den SS-Leuten mit Kolben und Ochsenziemern so lange geschlagen, bis sie, blutüberströmt und voller Blutergüsse, das Bewußtsein verloren. Sie wurden ins Lager gebracht, wo man ihnen im Krankenrevier eine tödliche Phenolspritze gab.“[23]
Nach sechs Wochen Erziehungshaft wurde er am 3. August 1943 als „Arbeitsscheuer“ ins Konzentrationslager Buchenwald[24] verschleppt; er erhielt die Häftlingsnummer 14640.
Aus dem Stammlager Buchenwald wurde Tomasz Kiryłłow zu Arbeitskommandos in Außenlager geschickt. Er wog nur noch 48 Kilogramm,[25] war krank und an den Beinen verletzt[26]. Er zweifelte daran, dass er überleben würde. Im Mai 1944 arbeitete er in einem Außenlager von Buchenwald in Nordfrankreich (Hesdin[27], Kommando Baubrigade V). Sein Überleben verdankt er polnischen, sowjetischen und französischen Hilfsnetzwerken, die ihn mit zusätzlichen Lebensmitteln versorgten. Schließlich gelang ihm am 12. Mai 1944 die Flucht und er schloss sich der französischen Résistance an. Dank der Widerstandsbewegung in Nordfrankreich überlebt er bis zum Ende des Krieges[28].
Nach dem Krieg kam Tomasz Kiryłłow mehrere Male aus Polen nach Frankreich und Deutschland, um ehemalige Widerstandskämpfer oder Zwangsarbeiter zu treffen, die er in Hessen kennengelernt hatte, und um sich auf die Suche nach anderen ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald zu machen. Seine Erinnerungen wurden zuerst 1980 in der Volksrepublik Polen veröffentlicht, unter dem Titel I tak przegracie wojnę. Die deutsche Übersetzung Und ihr werdet doch verlieren. Erinnerungen eines polnischen Antifaschisten (1985), die in der DDR im Berliner Dietz-Verlag erschien, muss natürlich auch vor dem Hintergrund eines heroischen Narrativs gelesen werden, welches vom Kampf der Kommunisten gegen den Faschismus handelt, insbesondere in Bezug auf Buchenwald, das Sinnbild für die Erinnerungskultur des Antifaschismus war. Der deutsche Verleger fügte Anmerkungen hinzu, um den politischen Diskurs des Textes in diese Richtung zu radikalisieren. Aber dank weiterer historischer Forschung gibt es heute die Möglichkeit, diesen Text auch mit anderen Aussagen von ehemaligen Zwangsarbeitskräften zu vergleichen, die als Kinder oder Jugendliche deportiert wurden. Ein Forschungsprojekt an der University of Wolverhampton[29] etwa hat 54 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen polnischen Kinderzwangsarbeiter:innen ausgewertet.
Seit 2019 befindet sich in Wetzlar eine Erinnerungstafel[30] zur Erinnerung an Tomasz Kiryłłow.
Emmanuel Delille, Juli 2022
Weiterführenden Informationen:
https://wetzlar-erinnert.de/ns-zwangsarbeit/neue-ausstellung/tafel-4/
Video:
Der Besuch von Tomasz Kiryłłow 1987 in Wetzlar, 30:21
https://www.youtube.com/watch?v=4OSrVPDbvrs