ERINNERUNG ENTSTEHT GEMEINSAM
In den monochromen, nur scheinbar intransparenten Elementen der Glaswand rücken unsere Silhouetten in den Hintergrund, hinter die Schriftzüge der Namen der hier Bestatteten. Schauen wir durch sie hindurch, erkennen wir uns selbst, während uns das Gefühl beschleicht, als würde diese Spiegelchimäre einen Dialog mit uns, uns aus der realen Welt, beginnen. Die Schicksale der Ermordeten mit ihren unbekannten, uns nichtsagenden Namen bilden die Brücke dieses Zwiegesprächs.
All jene, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, sind das Wesen des Dialogs, das Bindeglied zwischen den Akteuren auf beiden Seiten des Spiegels. Ihr tragisches Schicksal soll uns zum Nachdenken anregen oder gar dazu provozieren. Dabei sollten wir nicht nur darüber nachdenken, wer sie waren und warum sie sterben mussten, da einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzubauen und weiterzuführen auch bedeutet, Projekte zu initiieren und weiterzuentwickeln, die sowohl „Erinnerung“ als auch „Gedenken“ stimulieren.
Nachdenkenswert ist auch oder gar vor allem, wie es zu dieser Tragödie und mit wessen Zustimmung kam.
Vielleicht wollen uns diese Spiegelbilder daran erinnern, dass niemand anderes als wir selbst für die Freiheit, in der wir leben, verantwortlich sind und sie beschützen müssen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir sie selbst erkämpft haben oder ob sie uns geschenkt worden ist.
So jedenfalls verstehe ich die Intention der Schöpfer dieses außerordentlichen Erinnerungsorts.
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Meinen Landsleuten zur Erinnerung:
Unser Motto ist die Ausrottung des Nationalsozialismus bis an seine Wurzeln.
Unser Ziel ist die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.
(„Buchenwalder Eid“, 19. April 1945)
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Die Lebensgeschichten der hier bestatteten Opfer werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Lassen wir sie also zwischen den Glasschichten gefangen sein und - nach dem Willen von Klaus Leutner, dem Initiator des Projekts - frei sein zugleich, weil ihre Identität und ihre menschliche Würde wiederhergestellt wurden.
Diese Freiheit wurde ihnen von den vielen Freiwilligen geschenkt, die mit ihren Signaturen auf den gläsernen Gedenktafeln, vor denen wir stehen, verantwortlich zeichnen. Die Schriftzüge sind so einzigartig und unverwechselbar wie die Handschriften derer, die sie schrieben, genauso wie all jene, die hier bestattet wurden.
Ich lade Sie herzlich ein, den Friedhof von Altglienicke mit diesem einzigartigen Erinnerungsort zu besuchen.
Wojciech Drozdek, November 2021
In eigener Sache: In meinem Artikel „Das Bewahren vor dem Vergessen. Der Friedhof Altglienicke in Berlin“ [3], den ich im März 2020 für Porta Polonica verfasst habe, hat sich ein Fehler eingeschlichen, den ich hiermit berichtige. Darin ist zu lesen: „In Urnen auf einem Erinnerungsfeld kann die Asche verschiedener im Friedhofsregister für die Bereiche U1 und U2 eingetragener Personen ruhen oder auch nicht (...). Der Grund ist leicht nachzuvollziehen: In den Berliner Krematorien, ähnlich wie später auch im KZ Sachsenhausen, wurden in einem Ofen mehrere Personen auf einmal verbrannt und ihre Asche anschließend in einen Behälter gegeben.“
Dies jedoch entspricht nicht ganz der Wahrheit, worauf mich Klaus Leutner zu Recht hingewiesen hat. Anders als in den von der SS verwalteten Vernichtungslagern (darunter auch im KZ Sachsenhausen) wurden Verstorbene in den Berliner Krematorien einzeln eingeäschert.