DIE ANTIKE – VORBILD UND INSPIRATION? Deutsch-polnisches Pleinair für figürliche Plastik auf Schloss Trebnitz vom 28. Juli bis zum 22. August 2021
Die Schönheit liegt in der Proportion der Körperglieder, eines Fingers zum anderen, eines Fingers zum Handgelenk, zur Handfläche und all der Glieder zueinander.
Die Vollkommenheit hängt von vielen Zahlenverhältnissen ab und wird von kleinsten Abweichungen bestimmt.
Polyklet
Es ist Immer noch unklar, ob der Ansturm der Barbaren das Römische Reich zerstörte oder ob sein Untergang daran lag, dass das Imperium sein Potenzial ausgeschöpft hatte. Gleichwohl riss der Selbstverweis des alten Rom auf Griechenland nicht ab, so dass dessen Formensprache – bewusst oder unbewusst – in der Kunst wirksam geblieben ist. Die Antike verstand Statuen nicht als Kunstobjekte, sondern als Gegenstände, die magische Eigenschaften besaßen und Funktionen erfüllten. Die wichtigste Regel des antiken Kanons betraf die Anordnung und die korrekten Proportionen der Werke, die auf einem Quadratraster aufgebaut waren. Ausgangspunkt für Kuratorin Marta Wróblewska und die in Trebnitz anwesenden Künstler*innen ist vor allem der Entstehungsprozess von Kunst, der sich aus der vielschichtigen Erfahrung einer Grenzüberschreitung erklärt, ein Ereignis, dass sich mit kritischen Reflexionen verbindet, und mit dem Versuch, das Werk in unseren Kontext zu stellen, um seine Entstehungszeit zu reflektieren. Daher wurden die klassischen Bedingungsmuster in Frage gestellt und es wurde experimentiert.
Was also teilen uns die bildhauerischen Arbeiten des 21. Jahrhunderts in Bezug auf den antiken Kanon und die Werke aus dieser Zeit heute mit? Vor allem erzwingen sie eine Darstellung, die zur Abstraktion tendieren muss, da die zeitgenössischen Künstler*innen viele früher unbekannte Materialien verwenden. Die Arbeiten werden oft entgegen der überlieferten Formeln der Figuration geschaffen, was meist am Interesse an neuen formalen Lösungen und an Innovationsfreude liegt. Einige Künstler*innen nahmen Bezug auf konkrete bildhauerische Projekte, andere wiederum setzten sich mit dem Schaffen von Gustav Seitz auseinander. Dabei fiel auf, dass das Bedürfnis, unverbrüchliche Werte auszudrücken, wächst, während die einzige Wirklichkeit heute nur noch mit dem Baumanschen[1] Begriff der Flüchtigkeit zu beschreiben ist, was das Vertrauen in den antiken Mythos schwächt. Permanente Überschneidungen von Beziehungen und deren Durchdringung, die Fokussierung auf den kreativen Prozess sowie die Anwendung verschiedener Formen und ästhetischen Kategorien von Werken ließen Raum für vielfältige Interpretationen und gaben die Möglichkeit zum umfassenden Dialog sowie zum Aufbau emotionaler Bindungen mit den Betrachter:innen, was die Kuratorin Marta Wróblewska so resümierte: „Ohne Grenzüberschreitungen kann von Vitalität in der Kunst nicht die Rede sein.“
Hildegard Skowasch
Die Skulptur von Skowasch hat Totemcharakter. Ihr „Blockstil“ legt nahe, dass sie von einem reifen Archaismus und von den majestätischen Denkmälern von Gustav Seitz inspiriert worden ist. Der Kopf dieser Figur folgt den Abbildungen des römischen Gottes Janus, eines Greises mit zwei Gesichtern, der zugleich nach vorn und nach hinten sieht. Während wir „Janusköpfigkeit“ in politischen Auseinandersetzungen nicht nur als zwei Seiten eines Problems, sondern als widersprüchliche Ansichten verstehen, stellte die ursprüngliche Bedeutung auf die Macht über Himmel und Erde ab, über die Vergangenheit und die Zukunft. Die Figur ist aus Pappmaché und mit einer für Schultafeln üblichen Magnetfarbe grundiert. Diese Oberfläche versah die Künstlerin mit einem persönlichen Buchstabencode, in dem sie mit der Antike kommuniziert. Dieser chiffrierte Text ist eine intime Art konkreter Poesie. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine autodidaktische Sprachform, die es Skowasch erlaubt, sich die Antike in stoischen Wiederholungen anzuverwandeln.
Ilka Raupach
Die Faszination für die berühmte Laokoon-Gruppe und ihre Liebe zum Detail führen dazu, dass die Künstlerin sich in ihrer Arbeit auf eine Locke in Laokoons Mähne konzentriert. Haare galten in der Antike als Ausdruck von Kraft. In der Auseinandersetzung mit diesem einen Element und dem Anspruch, es ideal zu formen, versucht die Künstlerin nicht nur das schwierige Material – das alte Eichenholz – zu bändigen. Sie geht auch eine Verbindung mit dem Ort ein, an dem das Werk entsteht. Ihre Skulptur verkörpert die ewige „Suche nach einem nicht wirklichen und nicht beschreibbaren Objekt“ (Ilka Raupach) und ist in die aktuelle Kunstströmung der Land Art einzuordnen.
[1] Zygmunt Bauman (1925-2017), polnisch-britischer Soziologe und Philosoph [Anm. d. Übers.].