„Birkenau“ von Gerhard Richter

Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1
Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1

2008 sah Gerhard Richter zum ersten Mal in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Februar vier Reproduktionen der damals entstandenen Aufnahmen. Fasziniert von der Wirkungskraft der Fotos beschloss er, sie in seine Sammlung von Fotos und Motiven, den berühmten Atlas, der gleichsam eine Dokumentation seines ikonografischen Gedächtnisses darstellt, aufzunehmen. Er stellte schließlich gemalte Kopien der vier Aufnahmen her und hängte sie in sein Atelier. Schon bald entschied er sich, sie als Vorlagen für ein Werk zu nehmen, das den Titel Birkenau tragen sollte. Nach zahlreichen Überlegungen und Studien entstand 2014 die endgültige Fassung, die aus vier großformatigen abstrakten Gemälden (Öl auf Leinwand, je 260 x 200 cm) besteht.

Durch Übermalungen machte Richter die Vorlagen aus Birkenau jedoch vollkommen unsichtbar. Birkenau wurde dadurch zu einem rein abstrakten Werk. Der Titel, die vom Künstler mitgelieferte Dokumentation und die museale Präsentation, bei der das Werk konsequent zusammen mit den fotografischen Vorlagen ausgestellt wurde, machen die ursprünglichen Vorlagen jedoch auf mehr als subtile Weise anwesend. Das Wissen um diese Vorlagen ist dadurch ständig präsent.

Der Entstehungsprozess, die Wirkung und die vielfältigen Zusammenhänge von Richters Birkenau sind seit der ersten Präsentation des Werks im Museum Frieder Burda in Baden-Baden 2016 häufig und ausführlich beschrieben, rezensiert und interpretiert worden.[8] Bezeichnend ist jedoch, dass das Werk, das dem Holocaust gewidmet ist, auch ein bemerkenswerter Erinnerungsort für die Geschichte der Polen in Deutschland ist, was der Künstler persönlich bestätigt.[9] Ohne die polnische Widerstandsbewegung hätte es Richters Birkenau nicht gegeben.

Dadurch, dass Richter die sichtbare Quelle dieser Erinnerung mit seinem malerischen Gestus künstlerisch überdeckt, konstruiert er geradezu einen Erinnerungsort und regt die Diskussion darüber an.[10] Er schafft eine Balance zwischen der Erinnerung und der Ästhetik des Abstrakten, die eine eigenartige Doppelexistenz beider Bereiche zulässt. Aus Respekt davor, was im Lager Birkenau geschehen ist, zeigt Richter die erschütternden Dokumente nicht, macht sie jedoch in seinen Gemälden mit künstlerischen Mitteln erlebbar und erfahrbar. Das Lager Birkenau ist in dem künstlerischen Werk mit dem gleichen Titel „anwesend, aber nicht sichtbar“.[11]

Der Künstler versetzt den  Betrachter in eine Gratwanderung zwischen Erinnerung und Ästhetik, Grausamem und Schönem, Fassungslosigkeit und Neugierde und führt ihn in den Grenzbereich zwischen Offensichtlichkeit und Verdrängung. Am Ende gewinnt jedoch das Ästhetische, das, was Richter als Künstler zu diesem Thema beizutragen hat: das Bild. Es ist ein „Bild trotz allem“, das, wie Richter bemerkte, vor allem Trost spenden soll.[12]

 

[8] Siehe vor allem: Gerhard Richter, Birkenau, Museum Frieder Burda, Köln 2016 und Benjamin H.D. Buchloh, Gerhard Richters Birkenau-Bilder, Köln 2016

[9] Jacek Barski: Gespräche mit Gerhard Richter am 12. und 26. März 2018

[10] Bereits Paul Valéry (1871-1945) hat 1921-1922 in seinen Cahiers (Heften) auf die Paradoxie des Gedächtnisses hingewiesen: „Die Sensibilität ist das augenblickliche/unaufhörliche / Phänomen, welches das ‚Gedächtnis‘ in einer bestimmten Richtung auflädt– durch Quanten; und das es wieder entlädt – wiederum durch Quanten – in derselben Richtung. Wenn die Ladung ‚Gedächtnis‘ selbst empfunden wird, dann hat man es mit dem Phänomen der Erwartung zu tun. Warten heißt, ein Anwachsen wahrnehmen. Die Entladung verringert jedoch nicht nur die Ladung, sondern läßt sie wachsen oder macht sie zumindest für für die Einladung tauglicher... Das Gedächtnis ist also nicht Akkumulation, sondern Konstruktion. Der Inhalt des Gedächtnisses ist Akt – aktuelles Ereignis“; Paul Valéry, Cahiers, Paris 1973-1974, zitiert nach deutscher Ausgabe: Frankfurt am Main, 1989, Band 3, S. 441.

[11] „Anwesend, aber nicht sichtbar“ gehört als Diktum spätestens seit 2006 (Erscheinungsjahr von Thomas Pynchons Against the Day, New York, 2006, Deutsche Ausgabe Gegen den Tag, siehe hier S. 593) dem postmodernen Diskurs an.

[12] A.a.O.

Mediathek
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 1

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 2

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-2
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 3

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-3
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 4

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-4
  • Vorlage 1 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 1, Inventar Nr. 280
  • Vorlage 2 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 2, Inventar Nr. 281
  • Vorlage 3 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 3, Inventar Nr. 282
  • Vorlage 4 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 4, Inventar Nr. 283
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Dow Paisikovic, Zeitzeugenaussage vom 17. Oktober 1963

    Dow Paisikovic, Zeitzeugenaussage vom 17. Oktober 1963, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau
  • "Birkenau" von Gerhard Richter im Metropolitan Museum of Art

    Gespiegelt im "Grauen Spiegel", einer vierteiligen großformatigen Arbeit von 2018