„Birkenau“ von Gerhard Richter
Birkenau von Gerhard Richter als Erinnerungsort
Nach 1945 gab es nur wenige Versuche, authentisches Bildmaterial aus den Konzentrationslagern künstlerisch zu nutzen. Dafür waren der Schock über den Massenmord und der Respekt vor den Opfern einfach zu groß.
Władysław Strzemiński, bekannter Maler der polnischen Avantgarde, stellte 1945 seinen zehnnteiligen Zyklus aus Collagen mit dem Titel „Meinen jüdischen Freunden“ der Öffentlichkeit vor. Er hatte abstrakten, mit dem Bleistift gezeichneten Kompositionen aus suprematistischen Linien dokumentarische Schwarzweiß-Aufnahmen hinzugefügt, die aus dem Warschauer Ghetto, von Deportationen und aus Konzentrationslagern stammten. Dies führte in der internationalen Kunst- und Kulturszene zu einem bis heute andauernden Diskurs, ob es moralisch vertretbar sei, das Bildmaterial aus den Fabriken der Massenvernichtung zu nutzten.[1] Strzemiński schenkte seinen Zyklus, bis auf eine Arbeit, schließlich der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als dem für ihn einzig denkbaren und berechtigten Präsentations- und Aufbewahrungsort.
Nach Strzemiński gab es erst mit dem monumentalen achtteiligen Filmwerk Histoire(s) de Cinema[2] von Jean-Luc Godard, das 1988 begonnen und erst zehn Jahre später vollendet wurde, einen ersten Versuch, authentische Fotos und Filmsequenzen aus den Konzentrationslagern in eine künstlerische Produktion mit breiter Wirkung einzufügen. Die erschreckenden Archivbilder aus den Todesfabriken erreichten so zum ersten Mal ein Massenpublikum. Godards Intention, die „Schuld“ des Mediums Film anzusprechen, die Lager nicht gefilmt zu haben, mündete bald in eine international geführte Diskussion über die Nutzung solcher Bilder, der „Bilder trotz allem“[3], wie sie der französische Philosoph Georges Didi-Huberman 2003 in einer Publikation bezeichnete. Als beispielhaftes ikonografisches Material wählte Didi-Huberman für seine Erwägungen über die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit der Verwendung dieser „Bilder trotz allem“ im Kulturbetrieb gerade jene Aufnahmen, die das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau 1944 angefertigt hatte.[4]
Den Fotoapparat und den dazugehörigen Film hatte eine polnische Widerstandsgruppe in das Lager eingeschmuggelt.[5] Ein Grieche jüdischen Glaubens, Alberto Errera, hatte im August 1944 aus einem Versteck heraus sieben Aufnahmen gemacht, die unter anderem entkleidete Frauen auf dem Weg in die Gaskammer und die Verbrennung von Leichen unter freiem Himmel durch Mitglieder des Sonderkommandos zeigen.[6] Eine Polin, Helena Datoń, brachte den belichteten Film in einer Zahnpastatube aus dem Lager und übergab ihn zusammen mit einer Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński[7] und Józef Cyrankiewicz (später Ministerpräsident Polens in der kommunistischen Regierung 1947-52 und 1954-70) an Mitglieder der polnischen Widerstandsgruppe in Krakau.
[1] Władysław Strzemiński, "Moim przyjaciołom Żydom" (Meinen jüdischen Freuden), 1945, zehnteiliger Zyklus, collagierte Zeichnungen. Eine Collage dieses Zyklus befindet sich heute im Nationalmuseum in Kraków. Weitere Informationen zum Zyklus (auf Polnisch): Luiza Nadar: http://www.riha-journal.org/articles/2014/2014-oct-dec/special-issue-contemporary-art-and-memory-part-1/nader-strzeminski-pl sowie von Eleonora Jedlinska http://www.przeglad.uni.lodz.pl/t/2014nr1/05.pdf
[2] Godard verwendet in seinem monumentalen Werk bezeichnenderweise Details aus dem polnischen Spielfilm „Pasażerka“ (Die Passagierin) von Andrzej Munk. Der 1963 entstandene Film, der aufgrund des plötzlichen Unfalltodes des Regisseurs nicht vollendet werden konnte, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Zofia Posmysz (erschienen auf Polnisch 1962), die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat.
[3] Georges Didi-Huberman, Bilder Trotz allem, Paris 2003, deutsche Ausgabe München 2007. Siehe Seite 203.
[4] A.a.O. S. 27 ff.
[5] Siehe: Aufzeichnung und Sammlung von Beweisen über die Naziverbrechen, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Oświęcim, 1999, S. 353-354.
[6] Siehe dazu (in Englisch): https://en.wikipedia.org/wiki/Sonderkommando_photographs sowie (in Englisch und Deutsch): https://en.wikipedia.org/wiki/Alberto_Errera
[7] Zitiert nach Didi-Huberman, a.a.O., S. 32-33
2008 sah Gerhard Richter zum ersten Mal in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Februar vier Reproduktionen der damals entstandenen Aufnahmen. Fasziniert von der Wirkungskraft der Fotos beschloss er, sie in seine Sammlung von Fotos und Motiven, den berühmten Atlas, der gleichsam eine Dokumentation seines ikonografischen Gedächtnisses darstellt, aufzunehmen. Er stellte schließlich gemalte Kopien der vier Aufnahmen her und hängte sie in sein Atelier. Schon bald entschied er sich, sie als Vorlagen für ein Werk zu nehmen, das den Titel Birkenau tragen sollte. Nach zahlreichen Überlegungen und Studien entstand 2014 die endgültige Fassung, die aus vier großformatigen abstrakten Gemälden (Öl auf Leinwand, je 260 x 200 cm) besteht.
Durch Übermalungen machte Richter die Vorlagen aus Birkenau jedoch vollkommen unsichtbar. Birkenau wurde dadurch zu einem rein abstrakten Werk. Der Titel, die vom Künstler mitgelieferte Dokumentation und die museale Präsentation, bei der das Werk konsequent zusammen mit den fotografischen Vorlagen ausgestellt wurde, machen die ursprünglichen Vorlagen jedoch auf mehr als subtile Weise anwesend. Das Wissen um diese Vorlagen ist dadurch ständig präsent.
Der Entstehungsprozess, die Wirkung und die vielfältigen Zusammenhänge von Richters Birkenau sind seit der ersten Präsentation des Werks im Museum Frieder Burda in Baden-Baden 2016 häufig und ausführlich beschrieben, rezensiert und interpretiert worden.[8] Bezeichnend ist jedoch, dass das Werk, das dem Holocaust gewidmet ist, auch ein bemerkenswerter Erinnerungsort für die Geschichte der Polen in Deutschland ist, was der Künstler persönlich bestätigt.[9] Ohne die polnische Widerstandsbewegung hätte es Richters Birkenau nicht gegeben.
Dadurch, dass Richter die sichtbare Quelle dieser Erinnerung mit seinem malerischen Gestus künstlerisch überdeckt, konstruiert er geradezu einen Erinnerungsort und regt die Diskussion darüber an.[10] Er schafft eine Balance zwischen der Erinnerung und der Ästhetik des Abstrakten, die eine eigenartige Doppelexistenz beider Bereiche zulässt. Aus Respekt davor, was im Lager Birkenau geschehen ist, zeigt Richter die erschütternden Dokumente nicht, macht sie jedoch in seinen Gemälden mit künstlerischen Mitteln erlebbar und erfahrbar. Das Lager Birkenau ist in dem künstlerischen Werk mit dem gleichen Titel „anwesend, aber nicht sichtbar“.[11]
Der Künstler versetzt den Betrachter in eine Gratwanderung zwischen Erinnerung und Ästhetik, Grausamem und Schönem, Fassungslosigkeit und Neugierde und führt ihn in den Grenzbereich zwischen Offensichtlichkeit und Verdrängung. Am Ende gewinnt jedoch das Ästhetische, das, was Richter als Künstler zu diesem Thema beizutragen hat: das Bild. Es ist ein „Bild trotz allem“, das, wie Richter bemerkte, vor allem Trost spenden soll.[12]
[8] Siehe vor allem: Gerhard Richter, Birkenau, Museum Frieder Burda, Köln 2016 und Benjamin H.D. Buchloh, Gerhard Richters Birkenau-Bilder, Köln 2016
[9] Jacek Barski: Gespräche mit Gerhard Richter am 12. und 26. März 2018
[10] Bereits Paul Valéry (1871-1945) hat 1921-1922 in seinen Cahiers (Heften) auf die Paradoxie des Gedächtnisses hingewiesen: „Die Sensibilität ist das augenblickliche/unaufhörliche / Phänomen, welches das ‚Gedächtnis‘ in einer bestimmten Richtung auflädt– durch Quanten; und das es wieder entlädt – wiederum durch Quanten – in derselben Richtung. Wenn die Ladung ‚Gedächtnis‘ selbst empfunden wird, dann hat man es mit dem Phänomen der Erwartung zu tun. Warten heißt, ein Anwachsen wahrnehmen. Die Entladung verringert jedoch nicht nur die Ladung, sondern läßt sie wachsen oder macht sie zumindest für für die Einladung tauglicher... Das Gedächtnis ist also nicht Akkumulation, sondern Konstruktion. Der Inhalt des Gedächtnisses ist Akt – aktuelles Ereignis“; Paul Valéry, Cahiers, Paris 1973-1974, zitiert nach deutscher Ausgabe: Frankfurt am Main, 1989, Band 3, S. 441.
[11] „Anwesend, aber nicht sichtbar“ gehört als Diktum spätestens seit 2006 (Erscheinungsjahr von Thomas Pynchons Against the Day, New York, 2006, Deutsche Ausgabe Gegen den Tag, siehe hier S. 593) dem postmodernen Diskurs an.
[12] A.a.O.
Gerhard Richter wird sein Werk Birkenau nicht dem Kunstmarkt übergeben. Das Original ist Eigentum der Gerhard Richter Stiftung und bleibt auf Dauer der Öffentlichkeit frei zugänglich. Eine digitale Version des vierteiligen Ölgemäldes befindet sich im Reichstagsgebäude des Deutschen Bundestages in Berlin.
Ab März 2020 wird das Werk anlässlich einer Einzelausstellung von Gerhard Richter - Painting After All - im Metropolitan Museum of Art in New York (4.3.-5.7.2020) und anschließend im Museum of Contemporary Art in Los Angeles (14.8.2020-19.1.2021) gezeigt. In einem der Räume werden die vier Birkenau-Bilder gezeigt, die gleich großen digitalen Reproduktionen sowie die vier Fotos, die den Künstler zur Entstehung von Birkenau anregten. Ergänzt wird die Installation von der vierteiligen großformatigen Arbeit Grauer Spiegel von 2018 und dem Gemälde Grau von 1973. Die Positionierung des Grauen Spiegels im Zentrum des Raumes verweist direkt auf die zeitlose Bedeutung der Erinnerungskultur. Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog.
Jacek Barski, März 2020
Porta Polonica bedankt sich bei Gerhard Richter und seinem Team sowie bei Dr. Wojciech Płosa, Leiter des Archivs beim Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau), für die Unterstützung bei der Entstehung dieses Beitrags.
Offizielle Website von Gerhard Richter:
Video-Führung durch die Ausstellung Gerhard Richter: Painting After All:
https://www.youtube.com/watch?v=4rqiIg0xGZA
Studien für Birkenau aus dem Atlas von Gerhard Richter:
Birkenau im Museum Frieder Burda, Baden-Baden 2016:
https://www.gerhard-richter.com/de/videos/exhibitions/gerhard-richter-birkenau-256
Birkenau auf dem Manchester International Festival 2015 mit Musik von Arvo Pärt:
https://www.gerhard-richter.com/de/videos/exhibitions/richter-part-257
Weiterführende Literatur:
93 Details aus meinem Bild Birkenau, ein Kunstbuch von Gerhard Richter, Köln 2015
Gideon Greif, „Wir weinten tränenlos...“. Augenzeugenberichte des Jüdischen ´Sonderkommandos´ in Auschwitz, Frankfurt am Main, 1999
Dow Paisikovic, Zeitzeugenaussage vom 17. Oktober 1963: Staatliches Museum und Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Polen
Weiterführende Informationen (in Deutsch):
https://www.youtube.com/watch?v=j7_c-xgKh5A
https://de.wikipedia.org/wiki/Auschwitz-Album#„Bilder_trotz_allem“
Weiterführende Informationen (in Englisch):
The Auschwitz Album von Lilly Jacob-Zelmanovic Meier auf der Website von Yad Vashem:
http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/album_auschwitz/index.asp
Sonderkommando und Alberto Errera:
https://en.wikipedia.org/wiki/Sonderkommando_photographs
https://en.wikipedia.org/wiki/Alberto_Errera
Weiterführende Informationen (in Polnisch, po polsku):
Lekcja internetowa o Sonderkommando: http://lekcja.auschwitz.org/10_sonder/
Informationen und ausgewählte Presseberichte zur Ausstellung Painting After All im Metropolitan Museum of Art:
https://www.metmuseum.org/metmedia/video/collections/modern/gerhard-richter
https://www.sueddeutsche.de/kultur/gerhard-richter-ausstellung-new-york-painting-after-all-1.4830742
https://www.nytimes.com/2020/03/05/arts/design/gerhard-richter-review-met-breuer.html
https://www.monopol-magazin.de/gerhard-richter-new-york-met-breuer
https://www.newyorker.com/magazine/2020/03/16/the-dark-revelations-of-gerhard-richter
https://artpil.com/news/gerhard-richter-painting-after-all/
https://www.nzz.ch/feuilleton/gerhard-richters-malerei-nach-dem-holocaust-in-new-york-ld.1545994