„Birkenau“ von Gerhard Richter

Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1
Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1

Birkenau von Gerhard Richter als Erinnerungsort

 

Nach 1945 gab es nur wenige Versuche, authentisches Bildmaterial aus den Konzentrationslagern künstlerisch zu nutzen. Dafür waren der Schock über den Massenmord und der Respekt vor den Opfern einfach zu groß. 

Władysław Strzemiński, bekannter Maler der polnischen Avantgarde, stellte 1945 seinen zehnnteiligen Zyklus aus Collagen mit dem Titel „Meinen jüdischen Freunden“ der Öffentlichkeit vor. Er hatte abstrakten, mit dem Bleistift gezeichneten Kompositionen aus suprematistischen Linien dokumentarische Schwarzweiß-Aufnahmen hinzugefügt, die aus dem Warschauer Ghetto, von Deportationen und aus Konzentrationslagern stammten. Dies führte in der internationalen Kunst- und Kulturszene zu einem bis heute andauernden Diskurs, ob es moralisch vertretbar sei, das Bildmaterial aus den Fabriken der Massenvernichtung zu nutzten.[1] Strzemiński schenkte seinen Zyklus, bis auf eine Arbeit, schließlich der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als dem für ihn einzig denkbaren und berechtigten Präsentations- und Aufbewahrungsort. 

Nach Strzemiński gab es erst mit dem monumentalen achtteiligen Filmwerk Histoire(s) de Cinema[2] von Jean-Luc Godard, das 1988 begonnen und erst zehn Jahre später vollendet wurde, einen ersten Versuch, authentische Fotos und Filmsequenzen aus den Konzentrationslagern in eine künstlerische Produktion mit breiter Wirkung einzufügen. Die erschreckenden Archivbilder aus den Todesfabriken erreichten so zum ersten Mal ein Massenpublikum. Godards Intention, die „Schuld“ des Mediums Film anzusprechen, die Lager nicht gefilmt zu haben, mündete bald in eine international geführte Diskussion über die Nutzung solcher Bilder, der „Bilder trotz allem“[3], wie sie der französische Philosoph Georges Didi-Huberman 2003 in einer Publikation bezeichnete. Als beispielhaftes ikonografisches Material wählte Didi-Huberman für seine Erwägungen über die Möglichkeit  oder sogar die Notwendigkeit der Verwendung dieser „Bilder trotz allem“ im Kulturbetrieb gerade jene Aufnahmen, die das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau 1944 angefertigt hatte.[4]

Den Fotoapparat und den dazugehörigen Film hatte eine polnische Widerstandsgruppe in das Lager eingeschmuggelt.[5] Ein Grieche jüdischen Glaubens, Alberto Errera, hatte im August 1944 aus einem Versteck heraus sieben Aufnahmen gemacht, die unter anderem entkleidete Frauen auf dem Weg in die Gaskammer und die Verbrennung von Leichen unter freiem Himmel durch Mitglieder des Sonderkommandos zeigen.[6] Eine Polin, Helena Datoń, brachte den belichteten Film in einer Zahnpastatube aus dem Lager und übergab ihn zusammen mit einer Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński[7] und Józef Cyrankiewicz (später Ministerpräsident Polens in der kommunistischen Regierung 1947-52 und 1954-70) an Mitglieder der polnischen Widerstandsgruppe in Krakau.

 

[1] Władysław Strzemiński, "Moim przyjaciołom Żydom" (Meinen jüdischen Freuden), 1945, zehnteiliger Zyklus, collagierte Zeichnungen. Eine Collage dieses Zyklus befindet sich heute im Nationalmuseum in Kraków. Weitere Informationen zum Zyklus (auf Polnisch): Luiza Nadar: http://www.riha-journal.org/articles/2014/2014-oct-dec/special-issue-contemporary-art-and-memory-part-1/nader-strzeminski-pl sowie von Eleonora Jedlinska http://www.przeglad.uni.lodz.pl/t/2014nr1/05.pdf

[2] Godard verwendet in seinem monumentalen Werk bezeichnenderweise Details aus dem polnischen Spielfilm „Pasażerka“ (Die Passagierin) von Andrzej Munk. Der 1963 entstandene Film, der aufgrund des plötzlichen Unfalltodes des Regisseurs nicht vollendet werden konnte, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Zofia Posmysz (erschienen auf Polnisch 1962), die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat. 

[3] Georges Didi-Huberman, Bilder Trotz allem, Paris 2003, deutsche Ausgabe München 2007. Siehe Seite 203.

[4] A.a.O. S. 27 ff.

[5] Siehe: Aufzeichnung und Sammlung von Beweisen über die Naziverbrechen, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Oświęcim, 1999, S. 353-354.

[7] Zitiert nach Didi-Huberman, a.a.O., S. 32-33

Mediathek
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 1

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-1
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 2

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-2
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 3

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-3
  • Gerhard Richter, „Birkenau“ 4

    Gerhard Richter, Birkenau, 2014, Öl auf Leinwand, 260 x 200 cm, Werkverzeichnis: 937-4
  • Vorlage 1 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 1, Inventar Nr. 280
  • Vorlage 2 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 2, Inventar Nr. 281
  • Vorlage 3 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 3, Inventar Nr. 282
  • Vorlage 4 zu "Birkenau"

    Das vom Sonderkommando angefertigte Foto Nr. 4, Inventar Nr. 283
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Notiz von Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz

    Notiz der polnischen Häftlinge Stanisław Kłodziński und Józef Cyrankiewicz vom 4. September 1944 (auf Polnisch)
  • Dow Paisikovic, Zeitzeugenaussage vom 17. Oktober 1963

    Dow Paisikovic, Zeitzeugenaussage vom 17. Oktober 1963, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau
  • "Birkenau" von Gerhard Richter im Metropolitan Museum of Art

    Gespiegelt im "Grauen Spiegel", einer vierteiligen großformatigen Arbeit von 2018