Anna Piasecka
Das kindheitliche Trauma, alles allein schaffen zu müssen, hat bei ihr ein hohes Maß an Durchsetzungskraft, aber auch Naivität ausgelöst. Ohne Geld und ohne Sprachkenntnisse will sie sich auf den Weg nach Deutschland machen um dort Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Ein paar auswendig gelernte Sätze müssen für den Anfang genügen. Ihre Erlebnisse auf der Deutschen Botschaft in Warschau, die Kontrollen im Reisebus, bei denen die im Gepäck verstauten Gläser mit Bigos und Pierogi das Misstrauen der Grenzbeamten erregen, die Ankunft in einer Wohngemeinschaft an ihrem Studienort, deren hilfsbereite Mitbewohner sie nicht versteht und die wiederum nicht wissen, wo genau Polen liegt, schließlich die teilweise grotesken Vorgänge auf der Ausländerbehörde der norddeutschen Mittelstadt erzählt die Autorin so trocken und frei heraus, dass man ihre Schilderungen für Satire halten würde, wenn sie nicht so wahr wären.
Junge Leser könnten das für Erlebnisse aus einer fernen Zeit halten, als das Internet für alle noch in den Anfängen steckte, kaum jemand ein Notebook besaß und Tablets noch gar nicht im Handel erhältlich waren, als noch keine Social-Media-Plattformen existierten, Mobiltelefone noch Tasten hatten und man übers Festnetz in der Heimat anrief. Heute können sich doch, so möchte man meinen, alle fremdsprachigen und deutschen Studenten mühelos auf Englisch verständigen, übers Internet mit der Heimat kommunizieren und Kochrezepte, Verkehrsverbindungen oder Sprachmodule im weltweiten Netz abrufen. Wer jedoch jahrelang mit ausländischen Studenten zu tun hatte oder selbst im Ausland gearbeitet hat, weiß, dass sich an der psychischen und finanziellen Situation, den Sprach- und Lernproblemen oder den Erlebnissen auf Ämtern und Behörden in fremden Ländern gar nicht so viel geändert hat. Da wird man eher dazu veranlasst, der Autorin ganz viele eigene Geschichten erzählen zu wollen. Denn historische Vorgänge und subjektive Wahrnehmung gehen in Autobiographien eine ganz besondere Verbindung ein und veranlassen zu eigener Reflektion.
Der ZOB wird für die Studentin zum Sehnsuchtsort aller Abfahrten. Alle vier bis fünf Wochen fährt sie zu ihrer Familie nach Polen und nimmt die schmutzige Wäsche mit, obwohl es in ihrer Wohngemeinschaft eine Waschmaschine gibt. Sie will sich einfach ein Stück Zugehörigkeit zu ihrer Heimat erhalten. Zurück am Studienort wird sie mit den ersten Prüfungen konfrontiert. Bilanzierung, Investitionen und Wirtschaftsinformatik stehen auf dem Plan. Ihr anhaltend großes Sprachdefizit kompensiert sie damit, dass sie ganze Bücher auswendig lernt, ohne deren Inhalt zu verstehen. Am Ende stellt sie geradezu beschämt fest, dass sie mit dieser Taktik eine der höchsten Punktzahlen unter ihren Kommilitonen erreicht hat. Die Autorin verfügt über genügend Selbstironie um darin kein Vorbild für künftige Generationen von Studierenden zu sehen. Zwei Jahre wird Anna benötigen, bis ihr Deutsch einigermaßen belastbar ist.