Anna Piasecka
Autobiographie, Realsatire und Sachbuch zugleich
Wir gehören zu den Wenigen, die den Titel des Buches von Anna Piasecka, „BIGOS, ZOB und JOB“, auf Anhieb verstehen. Die regionale Deutsch-Polnische Gesellschaft hat die Autorin für eine Lesung aus ihrem ersten Buch eingeladen. Neben den Mitgliedern sind Annas Freunde und ehemalige Kommilitonen gekommen. Der Vorsitzende der Gesellschaft ist ihr schon seit einem vorangegangenen Schüleraustausch freundschaftlich verbunden. Vor allem aber hat sie in der Hafenstadt im äußersten Norden Deutschlands studiert. Davon und von dem Beginn ihrer beruflichen Karriere zwischen Deutschland und Polen handelt das Buch. In unserer Stadt leben Menschen aus 149 Nationen, darunter fast eintausend Polen, friedlich zusammen. Die Stadt gilt als weltoffen, auch wegen der nahen Grenze zu Dänemark. Sie ist Partnerstadt des polnischen Słupsk, wo Piasecka aufgewachsen ist. In ihrem Buch bleibt der Name unserer Stadt geheim. Die Erlebnisse der Autorin auch in anderen ungenannten Orten in Deutschland und Polen werden dadurch allgemein übertragbar und auch dem Datenschutz wird Genüge getan.
Bigos, das ist natürlich die polnische Nationalspeise aus gedünstetem Sauerkraut mit Wurst, verschiedenen Fleischsorten und Pflaumen, die mit Wein abgeschmeckt werden kann. Wenn es in der Fremde kein polnisches Restaurant gibt oder man sich den Besuch nicht leisten kann, bringt man das Gericht eben aus Polen mit, um sich ein Stück Heimat zu erhalten. Der ZOB ist der Zentrale Omnibusbahnhof in unserer Stadt, an dem sich alle Stadtbusse treffen und die Überlandbusse in die Nachbargemeinden und die Fernbusse nach Dänemark und Polen abfahren oder von dort ankommen. Er ist der zentrale Platz in dieser Stadt, den man überquert, wenn man vom Westen in die östlichen Stadtteile oder an den Hafen will und an dem täglich Tausende von Schülern und Studenten der Universität und der Fachhochschule umsteigen müssen. ZOB ist einer der ersten Begriffe, die Anna in Deutschland zu lernen hatte. Einen Job braucht jeder. Glaubt man Piasecka, dann zehrt er bis zum Umfallen an den Kräften oder man findet keinen. Für viele potentielle Leser sind die ersten beiden Begriffe des Buchtitels unbekannt und sollen neugierig machen. Den Buchhändlern erschweren sie aber, den Inhalt der Publikation einzuschätzen, was die Autorin nach einem Selbstversuch im Buchladen eindrucksvoll zu berichten weiß.
Um die Jahrtausendwende kommt Piasecka nach Deutschland. Es ist die Zeit des Post-Sozialismus, in der in Polen eingefahrene Mentalitäten und Traditionen noch die Ausbildung und das Berufsleben bestimmen und Mangelwirtschaft den Alltag erschwert. Das Land ist noch nicht Mitglied der Europäischen Union. Eine schwere Kindheit und Jugend haben die junge Frau abgehärtet. Viel zu früh hat sie Verantwortung für die kranke Schwester, die ganze Familie und sich selbst übernehmen müssen. Eigentlich hat sie in Polen Jura studieren wollen, doch trotz bester Schulnoten und einer hohen Punktzahl im Zulassungsverfahren keinen Studienplatz erhalten. Andere Bewerberinnen, deren Eltern Juristen sind, haben dies bei geringerer Qualifikation mühelos geschafft. Eine Anzeige in einer Zeitschrift, in der für ein Studium in Deutschland geworben wird, und eine positive E-Mail vom Dekan der Fachhochschule im hohen Norden machen ihr Mut ins Ausland zu gehen. Sie hat die Hoffnung, dem „vergifteten“ heimatlichen Umfeld zu entfliehen und in Deutschland eine neue Zukunft zu finden.
Das kindheitliche Trauma, alles allein schaffen zu müssen, hat bei ihr ein hohes Maß an Durchsetzungskraft, aber auch Naivität ausgelöst. Ohne Geld und ohne Sprachkenntnisse will sie sich auf den Weg nach Deutschland machen um dort Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Ein paar auswendig gelernte Sätze müssen für den Anfang genügen. Ihre Erlebnisse auf der Deutschen Botschaft in Warschau, die Kontrollen im Reisebus, bei denen die im Gepäck verstauten Gläser mit Bigos und Pierogi das Misstrauen der Grenzbeamten erregen, die Ankunft in einer Wohngemeinschaft an ihrem Studienort, deren hilfsbereite Mitbewohner sie nicht versteht und die wiederum nicht wissen, wo genau Polen liegt, schließlich die teilweise grotesken Vorgänge auf der Ausländerbehörde der norddeutschen Mittelstadt erzählt die Autorin so trocken und frei heraus, dass man ihre Schilderungen für Satire halten würde, wenn sie nicht so wahr wären.
Junge Leser könnten das für Erlebnisse aus einer fernen Zeit halten, als das Internet für alle noch in den Anfängen steckte, kaum jemand ein Notebook besaß und Tablets noch gar nicht im Handel erhältlich waren, als noch keine Social-Media-Plattformen existierten, Mobiltelefone noch Tasten hatten und man übers Festnetz in der Heimat anrief. Heute können sich doch, so möchte man meinen, alle fremdsprachigen und deutschen Studenten mühelos auf Englisch verständigen, übers Internet mit der Heimat kommunizieren und Kochrezepte, Verkehrsverbindungen oder Sprachmodule im weltweiten Netz abrufen. Wer jedoch jahrelang mit ausländischen Studenten zu tun hatte oder selbst im Ausland gearbeitet hat, weiß, dass sich an der psychischen und finanziellen Situation, den Sprach- und Lernproblemen oder den Erlebnissen auf Ämtern und Behörden in fremden Ländern gar nicht so viel geändert hat. Da wird man eher dazu veranlasst, der Autorin ganz viele eigene Geschichten erzählen zu wollen. Denn historische Vorgänge und subjektive Wahrnehmung gehen in Autobiographien eine ganz besondere Verbindung ein und veranlassen zu eigener Reflektion.
Der ZOB wird für die Studentin zum Sehnsuchtsort aller Abfahrten. Alle vier bis fünf Wochen fährt sie zu ihrer Familie nach Polen und nimmt die schmutzige Wäsche mit, obwohl es in ihrer Wohngemeinschaft eine Waschmaschine gibt. Sie will sich einfach ein Stück Zugehörigkeit zu ihrer Heimat erhalten. Zurück am Studienort wird sie mit den ersten Prüfungen konfrontiert. Bilanzierung, Investitionen und Wirtschaftsinformatik stehen auf dem Plan. Ihr anhaltend großes Sprachdefizit kompensiert sie damit, dass sie ganze Bücher auswendig lernt, ohne deren Inhalt zu verstehen. Am Ende stellt sie geradezu beschämt fest, dass sie mit dieser Taktik eine der höchsten Punktzahlen unter ihren Kommilitonen erreicht hat. Die Autorin verfügt über genügend Selbstironie um darin kein Vorbild für künftige Generationen von Studierenden zu sehen. Zwei Jahre wird Anna benötigen, bis ihr Deutsch einigermaßen belastbar ist.
Auch finanziell muss sie sich auf eigene Füße stellen. Bei einem in der Stadt ansässigen weltweit vertretenen Handy-Produzenten findet sie Arbeit am Fließband, die sie zusammen mit zahlreichen anderen ausländischen Kommilitonen mit der maximal erlaubten Dauer von sechs bis acht Nächten im Monat ausüben kann. Spätestens hier wird Studierenden, die Piaseckas Buch in die Hand bekommen, klar werden, dass bei einem Auslandsstudium weit mehr als ein fröhliches Studentenleben auf sie wartet. Aber damit nicht genug. Wirtschafts-Englisch steht auf dem Studienplan, das Anna ohne vorangegangene Englischkenntnisse und mit umso mehr Chuzpe bewältigen muss. Erst Jahre später wird sie auch dieses Defizit durch einen dreimonatigen Intensivkurs in Business-Englisch an einem College in London ausgleichen.
Zufällig und unvorbereitet wird sie Zeugin eines einschneidenden, weltpolitischen Ereignisses. In der Nacht vor dem Eintritt Polens in die Europäische Union am 1. Mai 2004 wartet sie wieder einmal im Bus Richtung Polen an der Grenze auf die verhasste Pass- und Zollkontrolle. Nach stundenlangem Warten wird der Bus um Mitternacht einfach durchgewinkt. Jubel bricht los. Von nun an fallen in Deutschland auch die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse weg. Anna findet einen neuen Aushilfsjob, macht ihr Vordiplom, absolviert ihr Praktikumssemester im Drogeriemarkt auf einer bekannten Nordseeinsel und beendet schließlich ihr Studium. Sie ist eine von nur drei Absolventinnen, die es in der Regelstudienzeit geschafft hat.
Die junge Frau bleibt in Deutschland. Ihre erste feste Anstellung findet sie in einem landwirtschaftlichen Unternehmen ebenfalls in Norddeutschland, das über eine polnische Tochterfirma verfügt. Die zweite und bedeutendere Position bietet ihr ein Agrarkonzern, der ein Joint Venture mit einem polnischen Landhandel anstrebt. Piasecka wird für mehrere Jahre nach Polen entsandt um das Vorhaben auf die Beine zu stellen und die beiden Firmen zusammenzuführen. An dieser Stelle, unter der Kapitelüberschrift „Projekt Polen“, wird Piaseckas Abhandlung zum Sachbuch, das über ein charakteristisches Berufsbild aus dem Bereich International Management informiert und als Fachlektüre für Studierende geeignet ist. Die Autorin berichtet über interkulturelle Probleme, den völlig neuen Blick auf das Land, aus dem sie ursprünglich kommt, über unterschiedliche Arbeitsmentalitäten und daraus folgende Veränderungen in der Personal- und Organisationsstruktur der polnischen Firma, den Entwurf eines Gesellschaftsvertrags, die Kommunikation in zwei Sprachen, die sie für das gesamte Unternehmen allein zu bewältigen hat, die verschiedenen Rechts- und Verwaltungssysteme in beiden Ländern, die Schulung der Mitarbeiter und den Aufbau eines neuen Vertriebssystems in Polen, schließlich über die Einführung moderner Formen des Controllings und des Berichtswesens. Das alles schildert sie jedoch so verständlich, dass es auch für fachlich nicht Vorgebildete gut lesbar bleibt.
Aus der naiven Studienanfängerin, die ohne Vorkenntnisse nach Deutschland kam, ist eine Managerin mit vier Handys, einhundertfünfzig täglich zu bewältigenden Telefonaten und einem Sechzehnstundentag geworden. Große Teile ihrer Kenntnisse hat sie durch Learning by Doing erworben und kann sich nun in allen Bereichen des weltweiten Managements behaupten. Zurück in Deutschland begleitet sie Tochter- und Beteiligungsgesellschaften in operativen, personellen, strategischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Fragen. Piaseckas Buch hat die Gegenwart erreicht.
Die Autorin hat jedoch ein anderes Lebensziel, denn die Ausbeutung der eigenen Person ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Um wieder zu sich selbst zu finden, kündigt sie ihre Arbeit und geht nach Südafrika um dort Kinder zu unterrichten. Mit einem Bündel an neuen Erfahrungen kehrt sie nach Deutschland zurück, um wieder in die Mühlen der deutschen Bürokratie auf dem Arbeitsamt und bei der Stellensuche zu geraten. Auch diese Erlebnisse sind so typisch und kurios, dass sie als Realsatire auf unsere moderne Gesellschaft empfunden werden können, ohne dass die Autorin auch nur ansatzweise übertreiben muss. Eine neue berufliche Position hat sie bis zuletzt nicht gefunden.
Taff und sympathisch, anders kann man die Autorin auch am Abend ihrer Lesung in unserer Stadt im hohen Norden nicht beschreiben. Für die Mitglieder der Deutsch-Polnischen Gesellschaft hat sie Bildprojektionen von ihrem Projekt in Südafrika mitgebracht, denn viele der Anwesenden haben gespendet und können nun sehen, wofür ihr Geld verwendet worden ist. „Teacher Anna. Eine Polin in Südafrika“ soll ihr nächstes Buch heißen. Es ist anzunehmen, dass es wie das vorangegangene voll mit persönlichen Erlebnissen, anschaulichen Informationen und kuriosen Begebenheiten sein wird.
Axel Feuß, Juni 2018
Anna Piasecka: BIGOS, ZOB und JOB. Eine Polin in Deutschland, Oberhausen/Oberbayern: NOEL-Verlag, broschiert, 126 Seiten, ISBN: 978-395493-184-2, 13,90 €