Der Lyriker Martin Piekar – Das Innere mit dem Äußeren verbinden
Für Piekar ist die dauerhafte Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft faszinierend und zutiefst politisch. Ihn interessiert, wie wir im Inneren und Äußeren unsere Emotionen verhandeln, und wie wir tagtäglich politische Entscheidungen treffen, oft wie nebenbei und ohne volles Bewusstsein. Im Dichten sieht er eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ausdruck, der immer aus einem Innen kommt und in ein Außen strebt. Sprache ist so für Piekar gleichzeitig der Weg nach innen und nach außen. Und ein Überwinden des Schweigens, der Resignation. Er sagt: „Ich habe das Gefühl, das größte Unverständnis erzeugt das größte Schweigen – Menschen hören dann auf miteinander zu reden, und reden nur noch übereinander. Übereinander hinweg ganz oft.“
Seinen Stil bezeichnet Piekar lyrisch als:
„Dunkel, dreckig, digital-affin.
Oral, offen, oczywisty.
Philosophisch, po prostu, Pathos.
Autentyczny, Ausbruch, ahnend.
Młody, merklich, mündlich.
Inny, Internet, introspektiv.
Nadziana, neugierig, nachfragend.”
Nach Vorbildern gefragt, antwortet er: „Ich will irgendwann mein eigenes Vorbild sein.“
Mittlerweile reist Martin Piekar gerne nach Polen. Die Ängste seiner Mutter hat er nicht zu seinen eigenen gemacht. Er liebt die polnische Sprache und Poesie, das polnische Essen und die Fähigkeit vieler Menschen in Polen, ausgelassen und offen zu sein. In Deutschland vermisst er manchmal diese fröhliche, lebensbejahende Atmosphäre und beklagt auch einen Mangel an polnischen Restaurants. Gleichzeitig lebt er gerne in Deutschland, liebt auch die deutsche Sprache und Poesie und schätzt die Strukturen, die er schon so lange kennt. Und natürlich sind in Deutschland seine Freunde, seine Wahlheimat Frankfurt am Main, sein Leben als Dichter und Lehrer. Nach Polen reist er etwa zweimal im Jahr. Einmal, um Verwandte zu besuchen, und dann noch einmal nur für sich selbst. „Ich kenne das Land“, sagt er, „und doch kenne ich so wenig davon“. Für die polnisch-deutschen Beziehungen wünscht sich Piekar mehr Miteinander, mehr Austausch und ein Anerkennen der Gemeinsamkeiten. Er sagt: „Wir sind Nachbarn und wir werden es bleiben.“
Letztes Jahr ist Martin Piekar in der literarischen Welt noch ein bisschen bekannter geworden. Mit seinem Text „Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk“ gewann er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur (Bachmann-Preis) in Klagenfurt sowohl den KELAG-Preis als auch den mit einem Stipendium in Klagenfurt verbundenen Publikumspreis. In dem Text setzt er seiner Mutter und ihrer dramatischen Lebensgeschichte ein Denkmal. Mittlerweile hat Piekar seinen dritten Gedichtband unter dem Titel „livestream & leichen“ veröffentlicht. Darin verbindet er das Polnische mit dem Deutschen, gibt beiden Hintergründen und Sprachen Raum und erzeugt in Kombination mit den Illustrationen von Nina Kaun eine komplett eigenständige Atmosphäre. Wie der Titel des Gedichtbandes schon nahelegt, verbindet Piekar aktuelle Themen und heutigen Sprachgebrauch mit seiner schwarzromantischen Ader und bricht so beides zugunsten einer komplexeren Sicht auf das Innere eines Ichs, das sich immer wieder mit dem Außen verbinden und sich immer wieder vor ihm schützen will.
Aktuell arbeitet Martin Piekar an seinem ersten Roman, über dessen Inhalt er noch nichts verraten will. In Bezug auf Gedichte sagt er: „Ich werde mein ganzes Leben lang an ihnen arbeiten.“
Anselm Neft, März 2024
Der Künstler im Netz: https://martin-piekar.net/