Stanisław Mikołajczyk
Die Angaben von Stanisław Mikołajczyk, dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung (Juli 1943 bis November 1944) über seine Kindheit im Ruhrgebiet sind sehr spärlich. Am Beginn seiner 1948 in Washington erschienenen Memoiren vermerkt er: „Mein Vater, der fünfzehn Geschwister hatte, war auf einem kleinen Bauerngut in Westpolen geboren worden. Er verließ die eigene Scholle und suchte Arbeit in den Kohlenbergwerken Westdeutschlands.“ Diese Zurückhaltung ist verständlich, weil Mikołajczyk damit sicherlich Freunde und Verwandte in Polen schützen wollte. Das Land war gerade eine „Volksrepublik“ sowjetischer Prägung geworden.
Als Geburtsort von Mikołajczyk wird in Biographien und den Internetportalen „Holsterhausen in Westfalen“ angegeben. Das trifft zwar zu, sorgt aber für weitere Irritationen, weil es diesen Ortsnamen sowohl in Essen und Dorsten als auch im ehemaligen Amt Eickel gibt. Favorisiert wurde bisher Dorsten-Holsterhausen. Das konnte offenbar nur geschehen, weil die Einträge in Geburts- und Taufregistern bisher nicht sorgfältig genug untersucht worden sind. Das unscheinbare Holsterhausen, 1809 noch eine Bauernschaft mit 147 Einwohnern, im Jahr 1902 immerhin schon eine Gemeinde im Amt Eickel von 7289 Einwohnern, hatten die Historiker nicht auf der Rechnung. Das Ergebnis darf man verheerend nennen: Der berühmteste Ruhrpole, den es im 20. Jahrhundert gab, war in seinem Geburtsort und im Ruhrgebiet völlig unbekannt. Eine besondere Bedeutung in der Geschichte der Polen in Deutschland blieb ihm bisher verwehrt.
Die Dokumente des Standesamts Eickel, heute aufbewahrt im Stadtarchiv Herne, und die Aufzeichnungen des Sekretariats der Marienkirche in Eickel für das Jahr 1901 ergeben folgendes Bild der Familie Mikołajczyk in Eickel / Holsterhausen:
Um 1895 verließen Stanisław Kostka Mikołajczyk, ein Bauernsohn aus dem Dorf Benice im Kreis Krotoschin in der preußischen Provinz Posen und seine Ehefrau Sophia, geborene Parysek, die Heimat, um in Eickel / Holsterhausen Arbeit zu finden. Stanisław Kostka wurde auf der Zeche Shamrock I/II angestellt. Im Bergrevier Herne gab es um 1900 ca. 8500 Bergleute mit eigenem Haushalt, von denen die Mehrzahl in Zechenhäusern wohnte. Diese waren bereits standardisiert. Jede Wohnung hatte fünf Zimmer mit insgesamt 81,5 m² auf zwei Etagen und kostete durchschnittlich 15 bis 20 Mark pro Monat, etwa die Hälfte der üblichen Miete auf dem freien Markt. Als Hauer auf Shamrock I/II, nach der Jahrhundertwende auf Shamrock III/IV, verdiente Stanisław Kostka monatlich 130 Mark.
Die Geburt des Sohnes am Donnerstag, den 18. Juli 1901, erfolgte im Elternhaus an der Industriestraße 9a (heute Beckumer Straße 9a) in Holsterhausen. Am Freitag, dem 19. Juli 1901, meldete der Vater die Geburt des Sohnes beim Standesamt in Eickel an. Der beurkundende Standesbeamte Stork stellte fest (Blatt A 769), dass es sich um einen Knaben handele, der ehelich geboren und römisch-katholisch sei. Er solle den Namen „Stanislaus“ tragen. Die Standesbeamten waren in dieser Zeit verpflichtet, bei Vornamen statt der polnischen Endsilbe „-ław“ die deutsche Endsilbe „-laus“ einzutragen. Die Anordnung ging auf die neue Minderheitenpolitik zurück, welche Kaiser Wilhelm II. seit 1890 verfolgte. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wollte er die kulturellen Eigenheiten der Minderheiten im Reich nicht mehr dulden. Er beabsichtigte, die Minderheiten unterschiedslos zu deutschen Staatsbürgern zu machen, was Nationalitätenkonflikte geradezu provozierte.
Am Sonntag, dem 21. Juli 1901, wurde der kleine Stanislaus in der Marienkirche in Eickel durch den katholischen Pfarrer Josef Schneider getauft (Registriernummer 438). Taufpaten waren die Schwester der Mutter, Viktoria Parysek, und der Bergmann Joseph Gatka, ein Arbeitskollege des Vaters.
Die Zukunftspläne der Familie wurden zerstört, als der Vater 1907 einen schweren Arbeitsunfall erlitt, durch den er nur noch über Tage eingesetzt werden konnte. Die Mutter kehrte mit dem knapp siebenjährigen Sohn 1908 nach Benice zurück und kaufte von den Ersparnissen einen sechs Hektar großen Bauernhof in Striesen (Strzyżewo) im Landkreis Gnesen (Gniezno). Der Vater blieb noch bis 1912 in Holsterhausen und absolvierte eine Schlosserausbildung.
Der jugendliche Stanisław arbeitete nach Abschluss der Volksschule abwechselnd auf dem Bauernhof der Familie und in einer benachbarten Zuckerrübenfabrik, in der er Mitglieder der nationalpolnischen Vereinigung „Falke“ (Sokół) kennen lernte. Er schloss sich der Gruppe an. Am 28. Juni 1919 erlangte Polen die Unabhängigkeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles. Im August 1920 meldete sich Mikołajczyk als Kriegsfreiwilliger zu der Armee des polnischen Marschalls Piłsudski, der den Einmarsch der Roten Armee an der Weichsel erfolgreich abwehrte und die Sowjets, die Polen als „abtrünnige russische Provinz“ betrachteten, in den Osten zurückdrängte. Im Frieden von Riga wurde die polnische Ostgrenze am 18. März 1921 von der Sowjetunion anerkannt.
Stanisław Mikołajczyk, der bei den Kämpfen verwundet worden war, wurde aus der Armee entlassen, kehrte auf den Hof nach Striesen zurück und vergrößerte ihn von sechs auf zwanzig Hektar. Er besuchte in den folgenden Jahren landwirtschaftliche Kurse an der Volkshochschule in Gnesen. 1924 wurde er Sekretär der Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe PSL) in Posen, gab eine Zeitschrift für Bauern und Pächter heraus und bekämpfte politisch Marschall Piłsudski, der 1926 in Polen eine Militärdiktatur errichtete 1924 heiratete er auch seine Jugendfreundin Cecylia Ignasiak, 1926 wurde Sohn Marian geboren. Seine Karriere wies zu dieser Zeit steil nach oben. 1930 zog er für die Bauernpartei als Abgeordneter des Bezirks Gnesen in den Sejm. Dabei halfen ihm seine agronomischen Kenntnisse als erfolgreicher Bauer, seine Redegabe, sein Ruf als Kriegsheld und sein gutes Aussehen.
Am 27. August 1939 meldete sich Mikołajczyk als einfacher Soldat bei einer Einheit in Westpolen und nahm an der Verteidigung Polens nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 teil. Nach der Niederlage floh er über Ungarn, Jugoslawien und Italien nach Paris. Dort wurde er Mitglied der polnischen Exilregierung, die nach der Kapitulation Frankreichs im Jahr 1940 nach London umzog und die polnischen Exilstreitkräfte im Westen organisierte. Am 27. Januar 1940 wurde Mikołajczyk zum Innenminister der Exilregierung ernannt. Er besuchte mit General Sikorski (dem Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung) Kanada und die USA und im Dezember 1941 Moskau. Dort vereinbarten sie mit Stalin, gemeinsam gegen den Hitler-Imperialismus zu kämpfen. Am 22. Januar 1942 wurde Mikołajczyk, der sich wegen seiner diplomatischen und organisatorischen Talente in der Exilregierung verdient gemacht hatte, zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt.
Nachdem im April 1943 die vorrückenden deutschen Truppen im Wald von Katyń bei Smolensk die Massengräber erschossener polnischer Offiziere entdeckt hatten, wandte sich General Sikorski mit der Bitte um eine unabhängige Untersuchung an das Rote Kreuz in der Schweiz. Diese Bitte nahm Stalin zum Vorwand, um am 25. April 1943 die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung abzubrechen, die nun zunehmend isoliert wurde, weil sich die westlichen Alliierten bei der Klärung der Schuldfrage zurückhielten. Der Verbündete in Moskau war ihnen wichtiger als die Wünsche der Verbündeten in London.
Nach dem Tode von General Sikorski bei einem Flugzeugabsturz vor Gibraltar am 4. Juli 1943 wurde Mikołajczyk am 14. Juli 1943 sein Nachfolger im Amt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Stalin schon eine aus Kommunisten gebildete „Polnische Regierung“ berufen, die nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee das Land auf seine künftige Rolle im Verbund mit der Sowjetunion vorbereiten sollte. Im Juli 1944 versuchten die Westmächte Gespräche zwischen Mikołajczyk und Stalin in Gang zu bringen, die darauf abzielten, eine Koalitionsregierung von Exilpolen und Kommunisten zu vereinbaren. Stalin stimmte einer Koalition unter kommunistischer Führung zu, wie er am 7. April 1944 Mikołajczyk bestätigte, der mit einer Delegation nach Moskau gereist war.
Am 24. November 1944 trat Mikołajczyk von seinem Amt zurück, weil er erkannt hatte, dass der militärische und politische Kampf der Exilpolen an der Seite der Westmächte für ein freies Polen gescheitert war. Am 16. Juni 1945 begab er sich nach Moskau, erhielt von Stalin die schriftliche Zusage, dass sich die Rote Armee aus dem souveränen Polen entfernen werde, sobald es die Situation zulasse, und wurde in der neunzehn Sitze umfassenden provisorischen Regierung in Warschau stellvertretender Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister. Am 5. Juli 1945 erkannten die Siegermächte die neue Regierung an und brachen die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London ab.
Als sich Mikołajczyk weigerte mit der Bauernpartei, die er wieder gegründet hatte, in einen „Block“ mit den Kommunisten einzutreten, drohten ihm und anderen Oppositionellen schwere Repressalien. Deshalb gab er am 8. Oktober 1947 seinen Sitz im Sejm auf. Laut seinen Memoiren hatte er außerdem gehört, dass ihn ein Militärtribunal bereits zum Tode verurteilt habe. Am 20. Oktober 1947 begann seine Flucht vom Bahnhof Warschau über die Provinz Posen und die Sowjetische Besatzungszone bis an die Elbe, von dort in nordwestlicher Richtung in die Britische Zone. Von dort wurde er mit einem Militärflugzeug nach London gebracht. Die polnische Exilregierung in London bezeichnete ihn als „Verräter“, weil er mit den Kommunisten koaliert hatte. Sie wollte nicht einsehen, dass Mikołajczyk letztlich dasselbe Ziel verfolgte wie sie.
Da für ihn und seine Familie ein weiterer Aufenthalt in London wegen der dauernden Anfeindungen unmöglich geworden war, verließ Mikołajczyk Mitte August 1948 mit dem Schiff “Queen Elizabeth“ England, emigrierte in die USA und bezog ein eigenes Haus in einem Washingtoner Vorort. Cecylia Mikołajczyk, welche die Konzentrationslager Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück überlebt hatte, starb 1951 an den Spätfolgen der Inhaftierung. Sohn Marian arbeitete als Angestellter in einem amerikanischen Flugzeugunternehmen. Stanisław Mikołajczyk wurde von Emigranten aus Polen und anderen östlichen Ländern zum Vorsitzenden der internationalen Bauerngewerkschaft gewählt. Er starb am 13. Dezember 1966 in Washington. Im Juni 2000 wurde er als Opfer des Stalinismus von der polnischen Regierung in Warschau rehabilitiert. Seine sterblichen Überreste wurden nach Polen überführt und in Posen beigesetzt.
Wolfgang Viehweger, Februar 2015
Ergänzung d. Redaktion:
Am 18. Oktober 2015 wurde im Rahmen einer Gedenkfeier eine durch das Polnische Außenministerium gestiftete Tafel für Stanisław Mikołajczyk im Eingang des Gemeindezentrums der Marienkirche in Eickel enthüllt (siehe Bilder). Im Beisein von Wolfgang Viehweger, dem Autor dieses Beitrags, Generalkonsul Jan Sobczak und dem Künstler Jerzy Bokrzycki aus Breslau wurde dabei auch das Grab von Prälat Josef Schneider, der Mikołajczyk 1901 getauft hatte, sowie der Original-Taufstein in der Marienkirche besucht.
Weiterführende Literatur:
Gmitruk, Janusz: Stanisław Mikołajczyk: trudny powrót. Muzeum Historii Polskiego Ruchu Ludowego, Warszawa 2002
Paczkowski, Andrzej: Stanisław Mikołajczyk, czyli klęska realisty. Warszawa 1991
Viehweger, Wolfgang: Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit. Herne 2014 [poln. Ausgabe 2016]
Die Memoiren Mikołajczyks wurden 1948 in einer Serie des Spiegels veröffentlicht http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44415220.html
Dokumente zu Mikołajczyk sind in den Hoover Institution Archives an der Stanford University archiviert – Suche unter: http://www.oac.cdlib.org/institutions/Hoover+Institution