Matthias Nawrat
Matthias Nawrat erinnert sich gut an seine Kindheit in Oberschlesien. Zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder wuchs er in einer Plattenbausiedlung in der Großstadt Opole auf. Seine Mutter arbeitete als Sportlehrerin in der nahegelegenen Siedlungsschule, sein Vater war Dozent für Sozialpsychologie und Wissenschaftler an der Hochschule. Nawrat sagt: „Ich war ein normales Kind im polnischen Sozialismus. Ich sah Karate Kid im Schulkino, ging in die Kirche, spielte mit Freunden in den Korridoren der Wohnblöcke Krieg und bestaunte irgendwann den Commodore 64 eines Klassenkameraden.“ Nawrat erinnert sich an Schlangen vor den Supermärkten und an den freitäglichen Appell auf dem Schulhof, bei dem die Partei und die Regierung in den immer gleichen Worten gepriesen wurden. Und obwohl er das Polen seiner Kindheit einerseits als grau und trist und ein wenig desolat vor Augen hat, erscheint ihm die Kindheit im Rückblick zugleich voller Magie: die Ausflüge in den Wald oder den See in Turawa, das heimelige Weihnachtsfest, die endlosen Sommerferien an der Ostsee.
Die Eltern allerdings sahen in ihrer Heimat zunehmend weniger Perspektiven. Sie litten nicht nur unter den wirtschaftlichen Einschränkungen, sondern auch unter der repressiven Atmosphäre, die viele Menschen zu Opportunisten machte. Als besonders unangenehm empfand das Ehepaar die ständige Verfolgung und Einschüchterung der zivilen Opposition rund um die Streikbewegung „Solidarność“. Wie bald das System kollabieren würde, wusste die Familie Nawrat nicht, als sie 1989 nach Bamberg umsiedelte. Da die Mutter des Vaters halbe Deutsche war und dort im Frankenland bereits seine Tante und sein Bruder lebten, galten die Neuankömmlinge in Deutschland als „Vertriebene“.
Matthias Nawrat vermutet, dass es mit seinem biografischen Hintergrund zusammenhängt, dass er von Anfang an über Außenseiter schreibt. Die deutsche Sprache lernte er vor allem durch Lesen und Schreiben. Den Wunsch, Schriftsteller zu sein, verspürte er aber erst während seines Biologiestudiums in aller Klarheit. Matthias Nawrat hatte sich für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden, weil er glaubte, auf diese Weise die belebte Welt und vor allem den Menschen tiefergehend ergründen zu können. Er interessierte sich vor allem für Neurobiologie, aber auch Quantenphysik, Biochemie oder Astronomie erschienen ihm Disziplinen zu sein, mit denen sich nicht nur die Phänomene in Raum und Zeit besser begreifen ließen, sondern auch das, was außerhalb davon liegen mochte: also das, was die Religionen Gott nennen.
Diese Hoffnung wurde allerdings enttäuscht. Er sagt: „Ich habe mithilfe der Biologie oder der Evolutionstheorie oder auch der Physik kein tieferes Verständnis gegenüber der Gottesfrage entwickelt und auch nicht wirklich etwas Tiefgründiges über den Menschen gelernt.“ Für Nawrat ist das Entscheidende an der Menschheit der einzelne Mensch, seine Innenwelt und seine Entscheidungen im Wechselspiel mit seiner kulturhistorischen Situation. Die Brücke von der Naturwissenschaft zur Literatur bildeten für ihn die Romane von Science-Fiction-Autoren wie Stanisław Lem und den Strugatzki-Brüdern. So war Nawrats erster Roman auch eine Science-Fiction-Geschichte mit dem Titel „Waldzone“. Er handelt davon, dass in der Zukunft aus unerklärlichen Gründen ein Wald die Menschen an die Pole des Planeten verdrängt hat. Eine Gruppe von Wissenschaftlern bricht in sein Zentrum auf, um herauszufinden, was passiert ist. Leider wurde der interessant klingende Stoff nie veröffentlicht.