Worte sind Musik – Sprache ist Stimme: Marta Górnicka und das politische Chortheater

Marta Górnicka
Marta Górnicka

Professionelle und nichtprofessionelle Schauspieler*innen, Kleine und Große, mit und ohne Migrationsgeschichte, Alte und Junge, Weiße und Schwarze, mit und ohne Behinderung, Menschen unterschiedlichster religiöser oder politischer Anschauung und ethnischer Herkunft: Rund 50 Berliner*innen mit verschiedensten gesellschaftlichen Hintergründen hat Marta Górnicka für die Uraufführung ihres Chorstücks „DAS GRUNDGESETZ“ auf der Open-Air-Bühne am Brandenburger Tor an diesem 3. Oktober 2018 versammelt. Es ist der Tag der Deutschen Einheit. Und inmitten des ausgelassenen Gewusels um die Feierlichkeiten des deutschen Nationalfeiertags ertönen die Fanfarenzüge auf der Bühne, während sich im Hintergrund der Sprechchor aufreiht.

Eine einzelne Stimme beginnt die Präambel des deutschen Grundgesetzes zu skandieren, eine zweite Stimme fällt beim Stichwort „Frieden“ ein. Der spätere Passus „das gesamte deutsche Volk“ hingegen wird vielstimmig und umspannt das gesamte Ensemble. Spätestens aber im Libretto wird Marta Górnickas zentrale These deutlich: Die deutsche Verfassung ist nicht der Gegenstand einer ethnisch homogenen Einheit, sondern einer heterogenen Gemeinschaft von Einzelnen. Was dem Publikum auf der Bühne dann dargeboten wird ist ein rhythmischer Fluss durch das deutsche Grundgesetz, das hier in Górnickas Chorstück „nur“ in Auszügen vorgetragen wird. Mal in Bewegung, mal frontal zum Publikum, einstimmig, zweistimmig, mehrstimmig und zu jeder Zeit bedeutungsschwanger in seinem Sujet: Unantastbare Würde, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Asylrecht politisch Verfolgter, Widerstandsrecht … Wie im Programm des Maxim Gorki Theaters als Initiator des Spektakels angekündigt, wird der Text der deutschen Verfassung bei dieser Inszenierung extremen Kräften ausgesetzt. Górnicka ­­–, die vorne vor der Bühne ganz in schwarz gekleidet und energisch die Arme in die Luft reißend ihren Sprechchor live dirigiert, – teilt und verteilt die Passus, lässt einzelne Sätze aufgeregt durcheinander von diversen Stimmen vortragen, hebt einzelne Worte heraus, lässt sie energisch wiederholen, regelrecht einhämmern, dehnt sie oder rhythmisiert sie. Ein chorischer Stresstest. Eine performative Belastungsprobe, die ganz die Handschrift ihrer Erschafferin trägt.

Die polnische Regisseurin, Sängerin und Fachfrau für das chorische Theater ist international gefeiert für diese Art der künstlerisch innovativen und inhaltlich hoch politischen Theaterarbeiten mit halbprofessionellen Ensembles und damit ein regelrechter kultureller Exportschläger aus Polen der letzten Jahre. Ausgebildet wurde die 1975 in Włocławek geborene Marta Górnicka an der Fakultät für Regie der Theaterakademie Aleksander Zelwerowicz, an der Fryderyk-Chopin-Universität für Musik, der Universität in Warschau sowie an der Staatlichen Schauspielschule in Krakau. Mit der Unterstützung des renommierten Warschauer Theaterinstitut Zbigniew Raszewski entwickelte sie seit 2009 ein eigenes Vokal- und Aktionstraining für Stimme und Körper und gründete im Jahr 2010 den innovativen „Chór Kobiet“ („Chor der Frauen“), bestehend aus 25 Frauen von unterschiedlichem Alter und Beruf. Der Erfolg ihrer frühen Arbeiten ließ nicht lange auf sich warten: Noch im gleichen Jahr zeigte sie ihre erste Inszenierung „TU MÓWI CHÓR“ („Hier spricht der Chor“), in welcher der Frust mehrerer Generationen über klischeebeladenen Frauenbilder in der westlichen Konsumgesellschaft sowie dem christlich-religiösem Ideal von Weiblichkeit zum Ausdruck kommen. Ein Jahr später folgte das Chorstück „MAGNIFICAT“, eine Kritik an der Stellung der Frau in der streng-katholischen polnischen Gesellschaft, mit dem sie 2012 als beste europäische Nachwuchsregisseurin bei „Fast Forward – europäisches Festival für junge Regie“ am Staatstheater Braunschweig ausgezeichnet wurde. Am Braunschweiger Theater schrieb sie nachfolgend ihr erstes Stück auf Deutsch, das 2015 zur Aufführung kam: „M(OTHER) COURAGE“, inspiriert von Bertolt Brechts Vorlage und in unsere jüngere politische Realität geholt. 2016 folgte schließlich ihr Chorstück „KONSTYTUCJA NA CHÓR POLAKÓW“ („Verfassung für den Chor der Polen“), auf welchem auch später ihre Inszenierung „DAS GRUNDGESETZ“ und damit das deutsche Pendant basieren sollte. Ein Jahr später fand am Berliner Maxim Gorki Theater die Premiere ihres (polnischsprachigen) Stückes „HYMNE AN DIE LIEBE (HYMN DO MIŁOŚCI / HYMN TO LOVE)“ statt, in dem sie sich mit den erstarkenden nationalistischen Tendenzen in ihrem Heimatland und Europa auseinandersetzte. 2018 gab Górnicka an den Münchener Kammerspielen ihr Regiedebüt mit „JEDEM DAS SEINE. EIN MANIFEST“, bei welchem Themen wie der Neofaschismus und anti-feministische Gegenreaktion gegen den weiblichen Körper thematisch im Mittelpunkt standen.

 

[1] Der Text der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wurde von der Regisseurin für die Performance geringfügig editiert und wird hier in der veränderten Form wiedergegeben. Im Original lautet der Passus: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

All diesen gesellschaftspolitisch relevanten, konfliktgeladenen und hoch aktuellen Themen ihrer Inszenierungen widmet sich Górnicka mit den Mitteln des (präzise choreografisch durchdeklinierten) Chortheaters, das seine historischen Bezugspunkte in der griechischen Antike hat: Rituale und Zeremonien von Gemeinschaft, kollektiver Tanz und Gesang. Zugleich geht Górnicka demonstrativ über diese Grenzen hinaus, indem sie auf die Diversität des Ensembles setzt und insbesondere Frauen zu Wort kommen lässt, deren Körper und Stimme bis heute marginalisiert werden. Für Górnicka und ihre Arbeiten dient der Chor als eines der kraftvollsten Elemente des Theaters und als zentrales Mittel, den sozialen, kulturellen, ökonomischen oder religiösen Charakter des Menschen kritisch zu reflektieren – und doch schien der Chor als kraftvolle Figur und dramaturgisches Mittel im nachantiken Theater lange Zeit vergessen zu sein.

Während im deutschsprachigen Theater mit den Inszenierungen des Theaterregisseurs Einar Schleef in den 1980er Jahren eine Wiedergeburt des Chors im Theater der jüngeren Zeit gefeiert wurde, ließ diese Entwicklung im Nachbarland Polen lange auf sich warten. Erst mit ihrer Gründung des „Chór Kobiet“ im Jahr 2010 gab Górnicka in Polen endlich die entscheidenden Impulse für ein neues chorisches Theater, das nicht männerdominiert, sondern überwiegend bis vollständig von weiblichen Stimmen geprägt war. Gerade vor dem Hintergrund des seit einigen Jahren anhaltenden „Roll-Back“ bei der Rolle der Frau in Polen ist dies gleichermaßen progressiv wie sensationell. Aber auch wenn in der polnischen Kulturszene die Aufführungen des Frauenchors schnell als ein Theaterereignis der letzten Jahre gefeiert und mit Auszeichnungen honoriert wurden, stieß Górnickas unkonforme und progressive politische Haltung sowie das in ihren Stücken vermittelte kritische Polen-Bild bei kulturpolitischen Entscheidungsträgern in ihrem Heimatland auf Ablehnung, so dass sie mitunter von Schwierigkeiten bei der Kulturförderung zu berichten weiß.[2] Dagegen wurde und wird auch weiterhin ihr chorisches Sprechtheater bei Gastspielen auf den Bühnen der Welt umjubelt aufgenommen und findet großen Zuspruch ­– insbesondere in Frankreich und Deutschland[3], wo sie aktuell am Maxim Gorki Theater und am Münchner Kammerspiel tätig ist und ihre Arbeit in dem von ihr gegründeten POLITICAL VOICE INSTITUTE weiter intensiviert.

Was diese talentierte Regisseurin noch mehr aus einem Chor herausholen kann – performativ wie inhaltlich? Mit einem pulsierenden Maß an auflebender Emotionalität, Tonalität und Botschaft reißen die Dirigentin und ihr Ensemble bei jeder der Inszenierungen das Publikum regelrecht mit und stoßen uns auf alles Fragile unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, die lebendigen Konflikte unseres Miteinanders, die Gegenwärtigkeit von Ungerechtigkeiten, aber sie zeigen eben auch die Klarheit und Schönheit unseres Grundgesetzes in Ausdruck und Sprache. Und dies erschreckt und begeistert gleichermaßen. Auch am Brandenburger Tor an diesem 3. Oktober 2018 wird das dargebotene Schauspiel mit Szenenapplaus honoriert: So beispielsweise bei dem Passus „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Artikel 16a) und bei „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (Artikel 20) … bis sich zum Schluss der Chor in der „Patriotic Disco“ tänzerisch auflöst und die Teilnehmer*innen wild und individuell auf der Bühne durcheinander wuseln.

Was bleibt von diesem eindrucksvollen Schauspiel, ist die Erkenntnis, dass unsere Verfassung als Sammlung unserer Werte wunderbar ist. Und wir alle sind in der Verantwortung, diese Grundwerte unserer Demokratie und unseres Zusammenlebens zu schützen. Jede und jeder Einzelne von uns.

 

Katarzyna Salski, Juli 2020

 

 

Weitere Informationen: 

https://www.gorki.de/de/ensemble/marta-gornicka

http://www.martagornicka.com/Gornicka/HOME.html  

 

Literatur:

Thomas Irmer: Die Gesellschaft auf der Bühne. Zum Chortheater der polnischen Regisseurin Marta Górnicka, in: Theater der Zeit, Heft 03/2017. Online: https://www.theaterderzeit.de/2017/03/34822/komplett/ (abgerufen am 30.07.2020)

Anna Opel: Das sprechende Wir, in: Deutschen Bühne, Heft 03/2020. Online: https://www.die-deutsche-buehne.de/das-sprechende-wir (abgerufen am 30.07.2020)

 

[2] Vgl. Interview mit Marta in der Berliner Morgenpost, vom 25.10.2019. Online: www.morgenpost.de/kultur/article227469627/Marta-Gornicka-Chortheater-hat-revolutionaere-Kraft.html (abgerufen am 30.07.2020)

[3] Vgl. Interview mit Marta Górnicka auf culture.pl: https://culture.pl/pl/tworca/marta-gornicka (abgerufen am 30.07.2020)