MAN SIEHT ES ODER MAN SIEHT ES NICHT. Die Topografie der ewigen Wiederkehr in der Malerei von Jerzy Skolimowski
„Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vogel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. [...] Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen.“
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Könemann, Köln 1999, S. 21–22.
Jerzy Skolimowski drehte zehn gute Filme, schrieb zehn gute Gedichte und schuf zehn gute Bilder. In dem Augenblick, als die großen Leinwände aus den Tiefen des Depots der Galerie hervorgeholt wurden, spürte ich, dass sich hier, trotz meiner großen Erfahrung als Kuratorin, etwas ganz Außergewöhnliches für mich vollzieht: Mir wurde klar, dass ich bis jetzt keinem Werk eines reifen Alters so nah gewesen bin und dass ich dem ersten Eindruck eines erfüllten Künstlers nicht nur vertrauen musste, sondern auch wollte. Seine Kindheit im Krieg (Jahrgang 1938) und die schwere Jugend in der Nachkriegszeit, die frühe Emigration sowie der Kampf um Ansehen und Anerkennung sind nur einige biografische Abschnitte, die den oft mit dem Gefühl der Fremdheit konfrontierten Mann zu dem „Anderen“ machten. Dabei kann das Anderssein (muss es aber nicht) für Künstler ein komfortabler Zustand sein. Der Maler Skolimowski akzeptiert jedoch alle Konsequenzen, die aus dieser Andersartigkeit resultieren. Er weiß, dass seine Malerei für Kunstfreunde eine Art Rätsel oder gar ein Geheimnis ist, doch durch das ständige Suchen (und Finden) nach leeren, zu füllenden Flächen, räumt er sowohl den Kritiker:innen als auch den Betrachter:innen diskret die Möglichkeit ein, ihre aufeinanderfolgenden Bereiche zu dechiffrieren. Was man auf den ersten Blick sieht, ist die außergewöhnliche Ausdruckskraft, die von Stärke und von dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit zeugt. Dieser Zauber der Kunst wird von Kunstschaffenden und vom Publikum als Überlebenselixier gebraucht. Er kann aber auch als Werkzeug auf dem Weg zur Wahrheit hinsichtlich des Lebens dienen. Und obwohl die Kunst länger währt und bisweilen wahrer als das Leben ist, und obwohl sie mitunter sogar unsterblich sein mag – das Leben ist sie nicht.
Der Maler Skolimowski begibt sich am liebsten in Situationen, die grenzwertig sind, die geradezu eine Dichotomie evozieren, was dazu führt, dass die seltsame Mischung von Unbeständigkeit und eigentümlicher Erhabenheit eine Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität erzeugt. Zugleich vermischt sich der Daseinsschmerz mit purer Freude, vielleicht sogar mit Exaltiertheit, die sich wiederum in eine äußerst inspirierende Unsicherheit (des eigenen Könnens?) verwandelt, um durchaus melancholisch zu den elementaren Fragen zurückzukehren: warum gibt es mich und wer bin ich eigentlich?
Der Künstler sollte sich im Leben wie auch in der Kunst von der Erkenntnis seiner selbst leiten lassen, um die für ihn sichtbare Welt in einem unendlichen Spiel der Phantasie gemäß dieser Wahrheit gestalten zu können, indem er die Verantwortung für die Freiheit seines Schaffens übernimmt. Selbst für die anspruchsvollen, erfahrenen Betrachter:innen wird sein Gemälde dann zum überraschungsreichen, zweideutigen Abenteuer in der Sphäre der Kunst. Welche Mittel sind also geboten, um die sorgfältig vor der Camouflage eitler Selbstzufriedenheit geschützte Unabhängigkeit zu entdecken und um die Freiheit zu finden, die in der Einsamkeit wohnt, damit sie das bleibt, was sie in ihrer perfekten, unbestechlichen Form ist? Die Farben ausdrücken, alle Töne vermengen, mit den Fingern greifen, Pinsel weglegen und zum Schluss mit allem vermischen, was einem gerade in die Hand fallen kann.
Oder vielleicht doch nur malen? Skolimowskis Bilder zeichnen sich in ihrer Ästhetik nicht durch Überschwang aus. Ich würde sie eher als Kompromiss zwischen der Eleganz ihrer Aussage und ihrer Intimität bezeichnen. Es scheint, als hätte er allen experimentellen Auseinandersetzungen zum Trotz die volle Macht über die Leinwand, so als würde er seine Kunst bewusst gestalten. Bewusst und nach eigenen Regeln lässt er sich sogar auf das Spiel des Zufalls ein. Und es spielt keine Rolle, dass er diese Regeln mit sich selbst ausmacht, dass sie sich mehr Idealen als der Empirie verdanken. Maß zu halten ist ein luxuriöses Privileg. Wie auch immer: die Kunst ist nicht das Leben.
Der Filmemacher Skolimowski und der Maler Skolimowski – das sind zwei Welten. Im Gegensatz zur Arbeit am Film mit einem ganzen Team von Menschen kommen ihm die Einsamkeit des Malers, die Unteilbarkeit und die völlige Unabhängigkeit der Entscheidungen (wie auch die Verantwortung dafür) sehr entgegen. Man hat den Eindruck, dass er Szenen wie im Film fixiert, indem er sich verschiedener Konventionen der Malerei frei bedient und sich dabei die besten Inhalte und die besten Räume nimmt, in denen wir als Betrachter:innen immer wieder seine beiden entgegengesetzten Extreme erleben: sein scharfes analytisches Denken und seine Reflektiertheit, die uns persönliche Interpretationen erlauben. Trotz der verschiedenen Quellen und Tendenzen, aus denen er seine Ausdruckssprache schöpft, bleibt Skolimowski erkennbar und dennoch eigenständig und keiner Schöpfung außerhalb der Kunst verpflichtet. Vielleicht ist ihre Identität für Künstler:innen ein leerer Ort, den andere betreten? Vielleicht führt der postmoderne Relativismus unserer Zeit dazu, dass die Probleme der Künstler:innen und der Betrachter:innen immer anonymer werden? Für „eilige Betrachter:innen“, die einfach nur eine weitere Ausstellung abhaken wollen, stellt eine solche Malerei sicher eine ziemliche Herausforderung dar: Ausgehend von den tatsächlichen Wirklichkeiten, ja sogar von der Greifbarkeit der Dinge und von Ereignissen, verwandelt Skolimowski sie in eigenständige Daseinsformen und schafft so eine vitale Variante moderner Malerei. Bei ihm ist die Abstraktion nie wirklich Abstraktion, da der Zugangspunkt – die Metapher – hier als Ausgangspunkt dient, so dass gilt: „Man sieht es oder man sieht es nicht.“
Unter Berufung auf Immanuel Kant warnt Jacques Derrida in seiner ästhetischen Theorie „Wahrheit in der Malerei“ davor, eine Situation zuzulassen, in der die Parerga, die Nebensächlichkeiten, wichtiger werden als das Wesentliche, nach dem wir suchen. Das Parergon stellt lediglich ein Beiwerk in einem Raum dar, etwas, was jenseits des Werkes existiert, auch wenn es oft die Entstehung eines Kunstwerkes auslöst. Skolimowski, der häufig zwischen Ergon und Parergon changiert, gelingt es beinahe meisterlich, die beiden Bereiche auszutarieren. Er weiß ganz genau, dass er zwischen Fiktion und Wahrheit pendelt und dass der Weg, den er beschreitet, nicht immer vielversprechend ist, auch wenn er ihn selbst gewählt hat. Die einzige Lösung besteht also darin, nicht nachzugeben, den Weg zu beherrschen, ihn den eigenen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich am besten auf ihn einzulassen, wobei die Vernunft hier nicht als letzte kognitive Instanz gilt, da ihre Möglichkeiten doch eher als begrenzt einzuschätzen sind.
Für Skolimowski scheint das Credo seiner künstlerische Erfüllung offenbar aus zwei Imperativen zu bestehen: zerstöre und baue. Und das geht so: die asketische, intellektuelle Malerei, in der wir zunächst nicht mehr sehen, als das, was wir sehen, bewegt sich gezielt auf die andere Seite des Spiegels zu, sie stellt Fragen und sie versucht, sich Antworten zu nähern, die jedoch nie eindeutig sind. Indem Skolimowski seine eigene Freiheit achtet, respektiert er auch die Freiheit seines Gegenübers, dem er die Wahl lässt und dabei einen Modus findet, um mit ihm in den Dialog zu treten. Mit dezent eingesetzten Symbolen stattet der Künstler die Betrachter:innen mit Schlüsseln zu persönlichen Lesart seiner Werke aus, wobei er die Begegnung mit den Empfänger:innen seiner Kunst, die sich in der Rezeption ereignet, als Gelegenheit zur Vertiefung seiner Selbsterkenntnis sowie als Antrieb zur seiner ständigen Veränderung versteht. Möglicherweise deswegen werden die „nicht eiligen Betrachter:innen“ von der Expression gefesselt, ebenso von der ruhigen Darstellung, die länger nachwirkt als die Minuten, die sie vor den Bildern verbringen? Möglicherweise bemerken sie die traumatischen Stürme, die sanft in lichterfüllte Erzählungen von der eigenen Befriedigung an der geruhsamen Beständigkeit übergehen, um unmittelbar danach den Moment zu erleben, in dem diese schönen Konventionen durch undisziplinierte Übergänge gebrochen werden? Damit berühren wir die zeitlichen Bezüge von Skolimowskis Malerei, da die Zeit eine äußerst wichtige Funktion in seiner künstlerischen Phantasie besitzt, die Effekte auf die korrekte Deutung seiner Intentionen hat.
Die Zeit existiert immer zugleich, in vielen Dimensionen und auf vielen Ebenen. Dank der wirklichen, der wahren, der schon erlebten und nur imaginierten Zeit kann alles mehrfach und unterschiedlich aufgefasst werden. Die Zeit ist der Schöpfer des Geschehens im Bild; sie verlangsamt oder beschleunigt die Narrative, um sie mit Skolimowskis Dichotomie aus Beständigkeit und Vergänglichkeit immer und immer wieder zu betonen. Eine auf diese Art und Weise behandelte Fläche büßt stellenweise ihre Realität als Bild ein, wobei sowohl der Schöpfer als auch die Betrachter:innen wissen, dass sie sich zwischen Fiktion und Wahrheit bewegen. Und nun frage ich mich: Ist nicht jede tiefgründige Interpretation eine Art Wunsch und Bitte um alles? Wie ist das Ende der Interpretation zu bestimmen, um die Heiligkeit des Schaffens unberührt zu lassen?
Die Malerei von Skolimowski... das sind – in meiner Lesart – weise Geschichten über die Nostalgie der Jahrhundertwende, über die Richtigkeit des Sammelns, Bewahrens und die Wiedergewinnung von Vergangenheit sowie über das Leben, das sich oft am Rande des Abgrunds abspielt... Außerdem sind es Geschichten über die Wahrheit in der Kunst, wobei die wohl wichtigste Erkenntnis die ist, dass man angesichts des stetig schwindenden Horizonts auf seinem eigenen Weg bleibt und obwohl der Horizont maximal auf die Entfernung einer ausgestreckten Hand zu erreichen ist, immer in Bewegung bleibend weitergeht, neue Welten entdeckt und auf Veränderungen hofft. Denn in der Kunst ist es wie im Leben, obwohl die Kunst nicht das Leben ist.
Magda Potorska, März 2023