MAN SIEHT ES ODER MAN SIEHT ES NICHT. Die Topografie der ewigen Wiederkehr in der Malerei von Jerzy Skolimowski

Jerzy Skolimowski, im Hintergrund links Plakat der Retrospektive „Play it again…! 60 Jahre Berlinale”, Berlin, 2010 r. Marian Stefanowski, 2023 r.
Jerzy Skolimowski, im Hintergrund links Plakat der Retrospektive „Play it again…! 60 Jahre Berlinale”, Berlin 2010

Unter Berufung auf Immanuel Kant warnt Jacques Derrida in seiner ästhetischen Theorie „Wahrheit in der Malerei“ davor, eine Situation zuzulassen, in der die Parerga, die Nebensächlichkeiten, wichtiger werden als das Wesentliche, nach dem wir suchen. Das Parergon stellt lediglich ein Beiwerk in einem Raum dar, etwas, was jenseits des Werkes existiert, auch wenn es oft die Entstehung eines Kunstwerkes auslöst. Skolimowski, der häufig zwischen Ergon und Parergon changiert, gelingt es beinahe meisterlich, die beiden Bereiche auszutarieren. Er weiß ganz genau, dass er zwischen Fiktion und Wahrheit pendelt und dass der Weg, den er beschreitet, nicht immer vielversprechend ist, auch wenn er ihn selbst gewählt hat. Die einzige Lösung besteht also darin, nicht nachzugeben, den Weg zu beherrschen, ihn den eigenen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich am besten auf ihn einzulassen, wobei die Vernunft hier nicht als letzte kognitive Instanz gilt, da ihre Möglichkeiten doch eher als begrenzt einzuschätzen sind.

Für Skolimowski scheint das Credo seiner künstlerische Erfüllung offenbar aus zwei Imperativen zu bestehen: zerstöre und baue. Und das geht so: die asketische, intellektuelle Malerei, in der wir zunächst nicht mehr sehen, als das, was wir sehen, bewegt sich gezielt auf die andere Seite des Spiegels zu, sie stellt Fragen und sie versucht, sich Antworten zu nähern, die jedoch nie eindeutig sind. Indem Skolimowski seine eigene Freiheit achtet, respektiert er auch die Freiheit seines Gegenübers, dem er die Wahl lässt und dabei einen Modus findet, um mit ihm in den Dialog zu treten. Mit dezent eingesetzten Symbolen stattet der Künstler die Betrachter:innen mit Schlüsseln zu persönlichen Lesart seiner Werke aus, wobei er die Begegnung mit den Empfänger:innen seiner Kunst, die sich in der Rezeption ereignet, als Gelegenheit zur Vertiefung seiner Selbsterkenntnis sowie als Antrieb zur seiner ständigen Veränderung versteht. Möglicherweise deswegen werden die „nicht eiligen Betrachter:innen“ von der Expression gefesselt, ebenso von der ruhigen Darstellung, die länger nachwirkt als die Minuten, die sie vor den Bildern verbringen? Möglicherweise bemerken sie die traumatischen Stürme, die sanft in lichterfüllte Erzählungen von der eigenen Befriedigung an der geruhsamen Beständigkeit übergehen, um unmittelbar danach den Moment zu erleben, in dem diese schönen Konventionen durch undisziplinierte Übergänge gebrochen werden? Damit berühren wir die zeitlichen Bezüge von Skolimowskis Malerei, da die Zeit eine äußerst wichtige Funktion in seiner künstlerischen Phantasie besitzt, die Effekte auf die korrekte Deutung seiner Intentionen hat.

Die Zeit existiert immer zugleich, in vielen Dimensionen und auf vielen Ebenen. Dank der wirklichen, der wahren, der schon erlebten und nur imaginierten Zeit kann alles mehrfach und unterschiedlich aufgefasst werden. Die Zeit ist der Schöpfer des Geschehens im Bild; sie verlangsamt oder beschleunigt die Narrative, um sie mit Skolimowskis Dichotomie aus Beständigkeit und Vergänglichkeit immer und immer wieder zu betonen. Eine auf diese Art und Weise behandelte Fläche büßt stellenweise ihre Realität als Bild ein, wobei sowohl der Schöpfer als auch die Betrachter:innen wissen, dass sie sich zwischen Fiktion und Wahrheit bewegen. Und nun frage ich mich: Ist nicht jede tiefgründige Interpretation eine Art Wunsch und Bitte um alles? Wie ist das Ende der Interpretation zu bestimmen, um die Heiligkeit des Schaffens unberührt zu lassen?

Die Malerei von Skolimowski... das sind – in meiner Lesart – weise Geschichten über die Nostalgie der Jahrhundertwende, über die Richtigkeit des Sammelns, Bewahrens und die Wiedergewinnung von Vergangenheit sowie über das Leben, das sich oft am Rande des Abgrunds abspielt... Außerdem sind es Geschichten über die Wahrheit in der Kunst, wobei die wohl wichtigste Erkenntnis die ist, dass man angesichts des stetig schwindenden Horizonts auf seinem eigenen Weg bleibt und obwohl der Horizont maximal auf die Entfernung einer ausgestreckten Hand zu erreichen ist, immer in Bewegung bleibend weitergeht, neue Welten entdeckt und auf Veränderungen hofft. Denn in der Kunst ist es wie im Leben, obwohl die Kunst nicht das Leben ist.

 

Magda Potorska, März 2023

 

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  • Von links: Jerzy Skolimowski, Marcin Fedisz, Kurator der Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings“

    Berlin 2023
  • Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings“ in der Galerie „nüüd.berlin“

    2023
  • Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings“ in der Galerie „nüüd.berlin“

    2023
  • Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings” in der Galerie „nüüd.berlin”

    2023 
  • Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings“ in der Galerie „nüüd.berlin“

    2023
  • Ausstellung „Jerzy Skolimowski – Paintings“ in der Galerie „nüüd.berlin“

    2023
  • Ausstellung der Gemälde von Jerzy Skolimowski

    Polnisches Institut Berlin, 2023
  • Ausstellung der Gemälde von Jerzy Skolimowski

    Polnisches Institut Berlin, 2023
  • Ausstellung der Gemälde von Jerzy Skolimowski

    Polnisches Institut Berlin, 2023
  • Ausstellung der Gemälde von Jerzy Skolimowski

    Polnisches Institut Berlin, 2023