Henryk Marcin Broder: deutsches Denken mit jüdischer Vernunft und polnischem Herz
Die Welt und die Achse des Guten
Henryk Marcin Broders kritischer Journalismus ist von vielen gefürchtet und wird von vielen (oft insgeheim) geliebt. Gleichgültigkeit kommt in Anbetracht seiner spannenden, unkonventionellen und pointierten Aussagen nicht auf. Auffallend ist, dass seinen scharfsinnigen Analysen eine ganz besondere, detailverliebte Beobachtungsgabe vorangeht. Den Kern seines Erfolgs macht jedoch die nur bei ihm vorkommende sonderbare Mischung aus Ironie, Sarkasmus, Provokation und Unterhaltung aus.
Henryk M. Broder wurde am 20. August 1946 als Henryk Marcin Broder im polnischen Katowice (Kattowitz) in Oberschlesien in einer polnisch-jüdischen Familie geboren. 1957 ist seine Familie, vermutlich aufgrund des in Polen damals deutlich anwachsenden Antisemitismus[1], in den Westen ausgereist, zunächst nach Wien und 1958 in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie auf Dauer blieb.
Seine Kindheit in Polen hat bei dem damals elfjährigen Henryk sicherlich mehr als deutliche Spuren hinterlassen und den Start sowie vermutlich sein gesamtes Leben in der neuen Heimat geprägt. Das Schreiben war ihm wahrscheinlich vorherbestimmt. Er fing in Hamburg ganz früh damit an und entdeckte die Kraft des Wortes. Deutsch ist seine Arbeitssprache, akzentfreies Polnisch kann er bis heute, Hebräisch ist für ihn selbstverständlich, Russisch (Herkunftsland seines Vaters) ist wahrscheinlich auf Abruf aktiv.
Am Anfang seiner publizistischen Arbeit scheint der Spaß an allen Facetten der Welt zu stehen. Vor allem Ungerechtigkeit, Grausamkeiten der Macht, Untiefen der Politik, aber auch permanentes Streben nach der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“[2] sollten bis heute zu seinen Dauerthemen werden. Broder, und dies ist wahrscheinlich die Haupteigenschaft der Emigranten aus Osteuropa, ist notorisch und bisweilen nervend neugierig und permanent auf Achse, um möglichst viel zu sehen und bloß nichts zu verpassen. Er wird zum scharfen Beobachter, wobei diese Schärfe schon einen beinahe mikroskopischen Charakter hat und in seinen Texten manchmal zu einer merkwürdigen Auswahl bei der Bedeutung der Sujets führt. Er scheint uns sagen zu wollen, dass man an den Details, die in der Regel übersehen werden, manchmal mehr ablesen kann, als es bei jenen Motiven der Fall ist, die der Mainstream sonst bevorzugt wahrnimmt.
Eine solche Sichtweise ist häufig bei Migranten aus Polen zu beobachten, die beispielsweise amerikanische Filme der goldenen Hollywood-Ära – eines der wenigen Fenster zur Welt im lange isolierten Land – nach solchen Details regelrecht abscannen, auf die Zuschauer aus dem Westen erst gar nicht kämen. Die Neugierde auf das Leben hinter dem Eisernen Vorhang war einfach so groß, dass beispielsweise nicht nur das Aussehen von berühmten Schauspielern, sondern auch die Umgebung, die Requisiten, die Verhaltensweisen oder generell alle Wirklichkeitsfetzten, aus denen diese ferne Lebenswelt abgelesen werden konnte, von Interesse waren.
[2] Milan Kundera, Unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Tschechisch: Nesnesitelná lehkost bytí), 1984