Henryk Marcin Broder: deutsches Denken mit jüdischer Vernunft und polnischem Herz

Henryk Marcin Broder, 2013
Henryk Marcin Broder, 2013

Die Welt und die Achse des Guten

 

Henryk Marcin Broders kritischer Journalismus ist von vielen gefürchtet und wird von vielen (oft insgeheim) geliebt. Gleichgültigkeit kommt in Anbetracht seiner spannenden, unkonventionellen und pointierten Aussagen nicht auf. Auffallend ist, dass seinen scharfsinnigen Analysen eine ganz besondere, detailverliebte Beobachtungsgabe vorangeht. Den Kern seines Erfolgs macht jedoch die nur bei ihm vorkommende sonderbare Mischung aus Ironie, Sarkasmus, Provokation und Unterhaltung aus. 

Henryk M. Broder wurde am 20. August 1946 als Henryk Marcin Broder im polnischen Katowice (Kattowitz) in Oberschlesien in einer polnisch-jüdischen Familie geboren. 1957 ist seine Familie, vermutlich aufgrund des in Polen damals deutlich anwachsenden Antisemitismus[1], in den Westen ausgereist, zunächst nach Wien und 1958 in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie auf Dauer blieb. 

Seine Kindheit in Polen hat bei dem damals elfjährigen Henryk sicherlich mehr als deutliche Spuren hinterlassen und den Start sowie vermutlich sein gesamtes Leben in der neuen Heimat geprägt. Das Schreiben war ihm wahrscheinlich vorherbestimmt. Er fing in Hamburg ganz früh damit an und entdeckte die Kraft des Wortes. Deutsch ist seine Arbeitssprache, akzentfreies Polnisch kann er bis heute, Hebräisch ist für ihn selbstverständlich, Russisch (Herkunftsland seines Vaters) ist wahrscheinlich auf Abruf aktiv. 

Am Anfang seiner publizistischen Arbeit scheint der Spaß an allen Facetten der Welt zu stehen. Vor allem Ungerechtigkeit, Grausamkeiten der Macht, Untiefen der Politik, aber auch permanentes Streben nach der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“[2] sollten bis heute zu seinen Dauerthemen werden. Broder, und dies ist wahrscheinlich die Haupteigenschaft der Emigranten aus Osteuropa, ist notorisch und bisweilen nervend neugierig und permanent auf Achse, um möglichst viel zu sehen und bloß nichts zu verpassen. Er wird zum scharfen Beobachter, wobei diese Schärfe schon einen beinahe mikroskopischen Charakter hat und in seinen Texten manchmal zu einer merkwürdigen Auswahl bei der Bedeutung der Sujets führt. Er scheint uns sagen zu wollen, dass man an den Details, die in der Regel übersehen werden, manchmal mehr ablesen kann, als es bei jenen Motiven der Fall ist, die der Mainstream sonst bevorzugt wahrnimmt.  

Eine solche Sichtweise ist häufig bei Migranten aus Polen zu beobachten, die beispielsweise amerikanische Filme der goldenen Hollywood-Ära – eines der wenigen Fenster zur Welt im lange isolierten Land – nach solchen Details regelrecht abscannen, auf die Zuschauer aus dem Westen erst gar nicht kämen. Die Neugierde auf das Leben hinter dem Eisernen Vorhang war einfach so groß, dass beispielsweise nicht nur das Aussehen von berühmten Schauspielern, sondern auch die Umgebung, die Requisiten, die Verhaltensweisen oder generell alle Wirklichkeitsfetzten, aus denen diese ferne Lebenswelt abgelesen werden konnte, von Interesse waren.

 

[2] Milan Kundera, Unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Tschechisch: Nesnesitelná lehkost bytí), 1984

 

Eine weitere Eigenschaft der Migranten aus Polen, die Broder offenbar ebenfalls geprägt hat, ist die Furcht vor der Frage nach der Herkunft und der nationalen Identität. Wenn man sich in der neuen Lebenswelt erst suchen und positionieren muss, dann scheint es in der Regel nicht nur unmöglich, sondern ist auch lästig, eine solche Frage zu beantworten. Dies wird in den sogenannten Mehrheitsgesellschaften in den meisten Fällen nicht begriffen. Solche Erfahrungen haben insbesondere prominente Deutsche jüdischer und polnischer Herkunft, wie etwa Marcel Reich-Ranicki, gemacht und Antworten daher konsequent verweigert oder sind in literarisch-symbolische Konstruktionen ausgewichen.

Vielleicht ist dies bei Broder auch der Grund dafür, dass er sich, wie die meisten Migranten, in den Vereinigten Staaten von Amerika so gut aufgehoben fühlt, einem Land, in dem man als Fremder mit einer geradezu unumstößlichen Selbstverständlichkeit und ohne lästige Fragen einfach dazu gehört.

Ab den 1970er Jahren griff Broder Themen um den wieder aufkommenden Antisemitismus in Deutschland auf. Es folgte in diesem Kontext auch seine berühmt-berüchtigte Auseinandersetzung mit der linken Szene, die vor allem zwei gravierende Folgen hatte: Broder wurde zum Bestsellerautor und er verließ 1981 Deutschland in Richtung Israel. Ohne es vorher geplant zu haben blieb er dort für zehn Jahre. 

In seinen Texten aus dieser Zeit wird deutlich, dass Broder systematisch eine analytische Vernunft entwickelt hatte und künftig einsetzte, um die Komplexität, die Tabus und Verkrampfungen im deutsch-jüdischen Verhältnis zu behandeln. Charakteristisch wird dabei die gedankliche Präzision seiner Analysen und Schlussfolgerungen. Auf diese Weise ist sein Schaffensicherlich eine der Geburtsstätten einer neuen jüdischen Vernunft, die vor allem auf die Garantie der Sicherheit der Juden und ihres Staates angesichts des neuen globalen Antisemitismus abzielt. 

Wie ein roter Faden ziehen sich durch Broders Schaffen und durch seine immer intensiver werdende mediale Präsenz die Entlarvung der politischer Unwahrheiten und der Kampf mit dem, was einst Jean-Paul Sartre als Mauvaise foi[3] (die Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst) bezeichnet hatte. Diese Besonderheit der Psyche, die für Sartre eine nicht ablegbare Grundeigenschaft der menschlichen Existenz war, ist für Broder ein Hauptgrund der zwischenmenschlichen Missverständnisse, mit denen er immer wieder den Kampf aufnimmt.

 

[3] Jean-Paul Sartre, Das Sein und Das Nichts, (L´être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Librairie Gallimard, Paris 1943, deutsche Ausgabe: Das Sein und das Nichts, Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg, 1991, S. 154

 

Als Autor macht Broder sich anscheinend gerne unbeliebt und mag vor allem jene Menschen, die ihn nicht mögen, wie er immer wieder sagt. Dass er damit kokett seinen Glauben an das Gute und [AF1] seine Hoffnung auf Besseres angesichts der alltäglichen Grausamkeiten überspielt, gehört zu den romantischen Seiten des exzentrischen Selbstdarstellers. Besonders sichtbar wird dies in seinen Talk-Show-Auftritten, von denen einige Kultstatus genießen, wie beispielsweise die legendäre Talkrunde mit den berühmten Boxkontrahenten Graciano Rocchigiani und Dariusz Michalczewski in der Sendung „Markus Lanz“ am 12. Februar 2014. Den legendären „Tiger“ Michalczewski sprach Broder während der Sendung mehrfach auf Polnisch an.

Anlässlich zahlreicher Preise und Ehrungen ist in den letzten Jahren sehr viel über Broder gesagt worden, was im Internet, seinem derzeit bevorzugten Medium, leicht zu finden und was ihm daher sicherlich recht ist. Was macht ihn in der deutschen Journalistenszene so unverwechselbar? 

Vielleicht sein polnisches Herz: das Gefühl fürs Absurde, der Hang zur starken Übertreibung, seine Neugierde, genuine  Wahrnehmung von Details, Vergötterung der Ironie, vulkanartige Emotionalität, Erkenntnisvermittlung durch Symbolik, Witz und Anekdoten, Betonung der Kraft des Imaginären, die Liebe zum Paradox, eine Tendenz zum gesunden Fatalismus, Melancholie oder überbetonte Empörung; es sind eine Aversion gegen Manipulationen, eine notorisch destruktive Grundeinstellung in der dauerhaften Suche nach dem Positiven, gelegentlich die rein polnischen Eigenschaften „pieniactwo“ und „warcholstwo“, was nicht exakt ins Deutsche übersetzt werden kann, sondern in etwa bedeutet: Ich habe zu jedem Thema etwas zu sagen und ich bin ein streitsüchtiger Unruhestifter. Außerdem kennzeichnend für Broders polnisches Herz könnten seine romantische Seele sein, Losgelöstheit und Offenheit als Arbeits- und Lebensmodus, affirmatives Desinteresse am Materiellen, Sehnsucht nach Sicherheit und die wohl bedeutendste Eigenschaft: Glaube an die Liebe als endgültige Antriebskraft. 

Broder gestaltet die Szene der vierten Gewalt in Deutschland, also der freien Presse, seit Jahrzehnten prägend mit. Vieles, sehr vieles wurde über ihn geschrieben und das Phänomen Broder wurde mit bisweilen unheimlicher Akribie öffentlich analysiert. Trotzdem ist zu vermuten, dass nur ein Bruchteil dieser vielfältigen Persönlichkeit  bekannt ist. An seinem vor allem in den elektronischen Medien stets präsenten ironischen Lächeln kann man jedoch ablesen: Seid unbesorgt, das ist noch längst nicht alles, denn ich habe noch viel zu sagen, und: So einfach werdet ihr mich nicht los. Das Kalkül der Vernunft scheint am Ende größer zu sein als seine Emotionalität.

Henryk Marcin Broder ist seit 2011 Kolumnist bei der Tageszeitung Die Welt. Von Berlin aus ist er ständig weltweit auf Achse. 

 

Jacek Barski, Juli 2018

 

Offizielle Website von Henryk M. Broder:

http://henryk-broder.com

 

Henryk M. Broder mit seiner Mutter, vermutlich noch in Katowice:

http://henryk-broder.com/hmb.php/blog/article/1045

 

Die Achse des Guten von Henryk M. Broder:

http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/author/mbroder

 

Wikipedia-Eintrag mit Publikationen und Liste der Auszeichnungen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Henryk_M._Broder

 

Laudationes (Auswahl):

„Ihm entgeht nichts vom alltäglichen Wahnsinn“, Leon de Winter, Die Welt, 20.8.2016

Polemiker im Weltall, Michael Hanfeld, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.8.2016

Die nicht gehaltene Laudatio auf Henryk Marcin Broder, Dirk Schirmer, Die Welt, 2.6.2018

 

Auftritt mit zahlreichen Zwischenrufen auf Polnisch von Henryk M. Broder in der Sendung Markus Lanz vom 12.4.2014 mit u.a. Graziano Rocchigiani und Dariusz „Tiger“ Michalczewski:

https://www.youtube.com/watch?v=BHNXuFZZmz8

Rede vor der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag am 29.1..2019:

https://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article187962993/Henryk-M-Broders-Rede-vor-der-AfD-Bundestagsfraktion.html