Die sogenannte „Eindeutschung“ von Polen im SS- Konzentrationslager Hinzert

Gedenkstätte SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert, 2008
Blick über das Gelände des ehemaligen SS-Sonderlagers/Konzentrationslagers Hinzert – heute Gedenkstätte – mit „Ehrenfriedhof“ von 1946, Gedenkskulptur von Lucien Wercollier von 1986 (links) und Sühnekapelle von 1948 im Hintergrund

Hatte ein von der Gestapo inhaftierter „E-Pole“ alle Anforderungen der „rassischen Überprüfung“ erfüllt, wurde er in die „Sonderabteilung für Wiedereindeutschungsfähige“ im SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert überstellt. Hier sollte er während der zunächst mehrmonatigen Haftdauer einer „charakterlichen Überprüfung“ unterzogen werden, deren Ergebnis die Lagerleitung in einer abschließenden Beurteilung zur „Wiedereindeutschungsfähigkeit“ niederlegen sollte. Zugleich wurde die Familie einer „Sippenüberprüfung“ unterzogen, die sich auf vermeintliche rassische Merkmale bezog. Fiel die Musterung der Familie negativ aus, war die Wiedereindeutschung gescheitert, und die Deportation in ein größeres Konzentrationslager sollte erfolgen. Wenn beide Überprüfungen positiv ausfielen, sollte die „Wiedereindeutschung“ als abgeschlossen gelten und der Häftling entlassen werden. Die Praxis des Verfahrens wich von diesen Vorgaben häufig ab, wie Felix Klormann gezeigt hat. Die häufigste Abweichung bestand in der Verzögerung aller einzelnen Schritte: Untersuchungen wurden mit großer Verspätung begonnen, für eine Sippenüberprüfung erforderliche Unterlagen erst gar nicht und dann mit erheblicher Verzögerung angefordert oder behördlicherseits übermittelt. Auch wenn Ergebnisse bereits feststanden, wurden sie manchmal nicht umgesetzt, Entlassungen ebenso verzögert wie Deportationen in größere Konzentrationslager; teilweise gab es Unklarheiten bei der Zuständigkeit. Die Sippenüberprüfung hatte schwereres Gewicht als die „charakterliche Überprüfung“, es wurde also ein größerer Wert auf die im weiteren Sinne „einzudeutschende“ Familie gelegt als auf das Individuum. Teilweise erhielten „E-Polen“, deren Beurteilung in Hinzert etwa aufgrund körperlicher Gebrechen negativ ausfiel bei positiver Sippenüberprüfung eine zweite Chance. Zugleich ließ sich diese Musterung nur aufwändig und im Fortschreiten des Krieges immer schwerer durchführen, denn Familienmitglieder waren möglicherweise ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppt worden, geflohen oder aus anderen Gründen nicht mehr am selben Ort, oder der ursprüngliche Wohnort befand sich gar nicht mehr Einflussbereich deutscher Behörden.[14] Eine Abweichung vom vorgesehenen Verfahren traf auch den 1915 in der Nähe von Posen geborenen Feliks Błaszczyk. Er geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er wahrscheinlich am 10. März 1941 entlassen wurde, um als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof in Harxheim im Zellertal (heute Rheinland-Pfalz) eingesetzt zu werden. Er wurde des verbotenen Umgangs mit einer Deutschen beschuldigt und deshalb am 6. Mai 1942 in „Schutzhaft“ genommen. Die beschuldigte Frau wurde am 11. Mai 1942 verhaftet und im November 1942 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt; insgesamt blieb sie in Haft bis Mai 1944. Feliks Błaszczyk kam erst nach etwa zehn Monaten, am 1. März 1943, nach Hinzert. Im Rahmen des „Eindeutschungsverfahrens“ verlief die „rassische Überprüfung“ positiv. Doch am 20. September 1943 wurde das Ergebnis aus unbekannten Gründen revidiert. Nach dem Widerruf des positiven Gutachtens wurde er ins Konzentrationslager Natzweiler transportiert. Offenbar wurde er dort befreit, denn am 22. September 1945 heiratete er in Lebach (Landkreis Saarlouis) die 1924 in Raków bei Lodz geborene Helena Justynowna. Sie war vom 1. Februar 1943 bis zum 1. November 1944 Zwangsarbeiterin bei den Dillinger Hüttenwerken in Saarbrücken gewesen. Feliks Błaszczyk starb 1984, Helena Błaszczyk 2001.[15]

Die Haft in Hinzert bedeutete für die „E-Polen“ viele Entbehrungen und eine große Gefahr für Leib und Leben. Die Ernährung reichte bei weitem nicht aus. Der Alltag war geprägt von Arbeit unter willkürlich und absichtlich geschaffenen sehr harten Bedingungen und überbordender und sinnloser Gewalt. Medizinische Hilfe bei Krankheit wurde nur völlig unzureichend gewährleistet oder ganz versagt. Unter diesen Umständen sollten die inhaftierten Polen ihre Arbeitskraft und noch zusätzlich „charakterliche Führungsstärke“ beweisen – durch die Zuteilung von Aufgaben als Funktionshäftling, die oft schwer umzusetzen waren, sie zwangsweise für das Funktionieren des Lagersystems in Dienst nahmen und in moralische Dilemmata führten.[16]

Die Zahlen der gesicherten Todesfälle direkt in Hinzert, die bisher ermittelt werden konnten, beträgt 321, wobei verschiedene Quellen nahelegen, dass es tatsächlich mehr waren und nicht alle sterblichen Überreste aufgefunden werden konnten.[17] Wie viele Polen sich darunter befanden, ist bisher nicht zu klären gewesen. 1946 wurde von der französischen Militärverwaltung auf dem Gelände des ehemaligen Lagers der Wachmannschaften ein „Ehrenfriedhof“ angelegt, auf den 217 zuvor im Umfeld verscharrte Tote umgebettet wurden. Nach Jahrzehnten, in denen die Erinnerung an das SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert in der Öffentlichkeit nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hatte, und dem Einsatz Einzelner und kleiner Gruppen seit den 1980er Jahren, konnte schließlich 2005 ein Dokumentations- und Begegnungsaus eröffnet werden, das zur Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz gehört und auch eine Dauerausstellung beherbergt.[18]

 

Julia Röttjer, Mai 2022

 

[14] Klormann, Felix: „Eindeutschungs-Polen“ im SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert, in: Grotum, Thomas (Hrsg.), Die Gestapo Trier. Beiträge zur Geschichte einer regionalen Verfolgungsbehörde, Köln u. a. 2018, S. 115–128, hier S. 122–127.

[15] Gedenkstätte SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert, Ständige Ausstellung. Dort wird die Biografie unter dem Namen „Felix Balszezyk“ bis zum Transport ins KZ Natzweiler präsentiert, das weitere Schicksal ist dort mit „unbekannt“ angegeben. Die weiteren Angaben beruhen auf [Standesamt Lebach], Lists of names of registry office Lebach-Caserne, 9.11.1945–22.12.1945, 10009495/82060762/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives. In der Datenbank https://straty.pl der Stiftung Aussöhnung (Fundacja Pojednanie) finden sich Eintragungen für beide Personen.  Hier lautet die Schreibung „Feliks Blarszyk“ bzw. „Blarsczyk“.

[16] Ebenda. Für die Existenz- und Arbeitsbedingungen im Lager vgl. Bader, Uwe; Welter, Beate: Das SS-Sonderlager/KZ Hinzert, in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 17–74, hier S. 30–34.

[17] Ebenda, S. 35.

[18] Bader, Uwe; Welter, Beate: Das SS-Sonderlager/KZ Hinzert, in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 17–74, hier S. 38f. Webseite der Einrichtung: https://www.gedenkstaette-hinzert-rlp.de/ (zuletzt aufgerufen am 12.1.2022).

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  • Neu angekommene polnische Häftlinge im SS-Sonderlager/Konzentrationslager Hinzert, um 1940

    Sichtbar ist die Ablage ihrer Kleidung, bevor sie gewaschen und rasiert werden