Ikonen, Paletten, Marsmelonen & Planeten: Das künstlerische Wunderland von Alicja Kwade
Uhren, Spiegel und Steine gehören zu den Requisiten, mit denen Alicja Kwade ihr Magnum Theatrum bestückt. Obwohl ihre Arbeiten bereits während und nach dem Studium an der Universität der Künste Berlin als Geheimtipp galten, eröffnete ihr erst der Piepenbrock Förderpreis für Skulptur, mit dem sie 2008 ausgezeichnet wurde, die Möglichkeit, ihre Aufsehen erregenden Schöpfungen einer breiten Öffentlichkeit, darunter auch der Kunstkritik, vorzustellen. Die mit dem Förderpreis verbundene Einzelausstellung der 29-jährigen Laureatin fand vom 20. Juni bis zum 24. August 2008 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin statt und begeisterte gleichermaßen das Publikum und die Kunstwelt. Da gab es plötzlich im fast 1.300 Quadratmeter großen Werkraum 15 eine Künstlerin zu entdecken, die sich auf eine recht einfache, für viele Betrachterinnen und Betrachter auf Anhieb verständliche Weise mit Themen auseinandersetzte, die die unendliche Gültigkeit der obligaten Systeme, Strukturen und Wertvorstellungen betreffen. Ihre Ausstellung unter dem Titel „Von Explosionen zu Ikonen“ zeigte, wie relativ die Welt, ihre materiellen und immateriellen Dinge sind: Gewöhnliche, auf der Straße gefundene Steinchen verwandeln sich durch Diamantenschliff in „Bordsteinjuwelen“, die Zeit läuft weiter, obwohl die Zifferblätter der Uhren mit einer Metallschicht bedeckt werden, eine unscheinbare Holzpalette wirkt nach der Restaurierung mit edler brauner Beize wie ein antiquarisches Schmuckstück, gemahlene Glasflaschen einer noblen Champagnermarke bilden einen nostalgischen kleinen grünen Hügel, und vergoldete Briketts mutieren zu teuren Goldbarren. Und noch eins demonstrierte damals die angehende und zugleich erstaunlich reife Bildhauerin, nämlich dass sie auch einen schwierigen, durch ablenkende Säulen flankierten Raum angemessen nutzen und gestalten kann.
Bekennende Zweiflerin & skeptische Beobachterin
Nun ist die in kosmischen Dimensionen denkende und arbeitende Alicja Kwade auf dem besten Weg, selbst zu einer internationalen Ikone der raumgreifenden Kunst zu werden. Kein Wunder, denn Kunst war schon immer ihr natürliches Ambiente und spielte eine wichtige Rolle im Leben ihrer Familie. Ihre Mutter war Professorin an der Schlesischen Universität Kattowitz / Uniwersytet Śląski w Katowicach, wo sie Kulturwissenschaft und Slawistik unterrichtete, ihr Vater, ausgebildeter Restaurator, gründete und betrieb die erste private Galerie für zeitgenössische Kunst in der schlesischen Metropole. Als Alicja acht Jahre alt war, zog sie zusammen mit ihren Eltern und dem drei Jahre älteren Bruder Martin nach Hannover. Mit 20 ging sie nach Berlin, studierte an der Universität der Künste, die sie 2005 als Meisterschülerin von Christiane Möbus absolvierte. Danach arbeitete sie als Assistentin des Künstlers Anselm Reyle, aber auch als Kellnerin, Schuhverkäuferin und Security Guide bei der Berlinale. Während ihre Gedanken durch das Weltall schweiften, stand sie mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Ihre Kunst, mit der sie in einer so kurzen Zeit so große Erfolge verzeichnen konnte, beruht auf einem schlüssigen und überzeugenden Konzept, dem philosophische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen. Doch weil Alicja Kwade eine bekennende Zweiflerin und skeptische Beobachterin der faktischen und hypothetischen Welt(en) ist, glaubt sie nicht, was sie sieht, hört oder liest. Sie weiß einfach, dass sie nicht weiß, was wirklich, wahr, konstant und unveränderlich ist. Um die fragile Wahrnehmung der Dinge, zwischen und unter denen die Menschen leben, zu veranschaulichen, schafft sie ein komplexes Werk, dessen Symbolik sich leicht entschlüsseln lässt: Steine verkörpern im Allgemeinen die Erde, zu Kugeln geformt, beziehen sie sich auf Planeten, in den Uhren, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar sind, kreist die Zeit, die Spiegel verdoppeln oder multiplizieren scheinbar ins Unendliche Lampen, Leuchten und Leiber. Zum anderen spielt die Künstlerin mit der Form der Objekte, die sie in unerwartete Posen pressen, biegen oder gießen lässt.
Megaspiel mit Spiegel zwischen Erde & Himmel
Alicja Kwade ist eine Meisterin der Verfremdung und Verwirrung, die ein Universum kreiert, in dem man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Die Bühnen, auf denen sie ihre sonderbaren Skulpturen auftreten lässt, sind sowohl intime und erst seit relativ kurzer Zeit der Kunst geweihte Orte, die auf eine lange Vergangenheit zurückblicken wie zum Beispiel das Schloss Lieberose im Spreewald, die Kunsthalle TRAFO im ehemaligen Elektrizitätswerk in Stettin oder das Haus am Waldsee, eine Anfang der 1920er Jahre gebaute einstöckige Villa in Berlin-Zehlendorf, in der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ausstellungen der Gegenwartskunst stattfinden. In der Gruppenschau Rohkunstbau XXV, die in der Lockerungsphase des Lockdowns im Sommer 2020 vor und im Barockschloss Lieberose gezeigt werden durfte, verblüffte Alicja mit ihrer auf dem Schlosshof stehenden „Megasubstanz“ (2020), einem auf Hochglanz innen und außen polierten Rohr, das in einer Granitfassung steckte. Die Besucherinnen und Besucher blieben lange davor stehen, umrundeten dieses eigentümliche Kaleidoskop, sahen es sich von allen Seiten und Richtungen an. Dabei entstanden überraschende Ansichten und Einsichten, denn es handelte sich um ein Megaspiel mit Spiegel, Hohlspiegel und Zerrspiegel, die den Himmel, die mit Unkraut bewachsenen Bodenplatten, die Bäume, die umliegenden Häuser und das Publikum auf raffinierte Weise reflektierten, fragmentierten und es immer wieder in andere Konstellationen brachten. Dieses interaktive Kunstwerk demonstriert auf eine subtile Weise die Verbindung zwischen den Menschen und ihrer Umwelt, auch die fließenden Übergänge zwischen Himmel und Erde, die man nur in Teilen, nie als Ganzes erfassen vermag.
Mehr Licht gibt es hier nicht
Alicja Kwades Ausstellungen sind immer ortsbezogen, das heißt, der ihr zur Verfügung gestellte Raum ist eine Bühne und Kulisse für ihre Inszenierungen. Weil sie ein sicheres Raumgefühl hat, bezieht sie die architektonischen Besonderheiten, ja, sogar die Geschichte der zu bespielenden Häuser mit ein. Sie setzt sich mit den Räumen auf ihre spezifische Art auseinander, indem sie ihre ursprüngliche Bestimmung gleichermaßen aufgreift und konterkariert. Ein Beispiel dafür war Alicjas erste institutionelle Soloschau in Polen, die 2015/2016 unter dem Titel „Nach Osten“ im TRAFO Stettin stattfand. Dieses 1912 erbaute modernistische Elektrizitätswerk, das sich gegenüber der gotischen Johannes-Kirche befindet und im Stil einer Industriekathedrale gestaltet wurde, ist seit 2013, nach einer sorgfältigen Sanierung, der wichtigste Ausstellungsort der polnischen und internationalen Gegenwartskunst in der Stadt an der Oder. Für die Präsentation ihrer frühen Video-, Sound- und Lichtinstallationen verwandelte die Künstlerin die weiße Mittelhalle und die umliegenden Galerien in einen schwarzen Turm mit einem auf einer Höhe von 14 m angebrachten Pendel, dessen Ende eine Glühbirne krönte. Sie drehte sich um die eigene Achse 24 Stunden lang, blitzte immer wieder auf, um sich dann in der Dunkelheit aufzulösen. Die kurzen lichten Momente erzeugten eine fast übernatürliche Spannung, die die Besucherinnen und Besucher elektrisierte. Umso mehr, dass sie an einem Ort, wo früher Helligkeit produziert wurde, im Dunklen tappen mussten.
Quantenbanane & Radiopulver in Vitrine
In Berlin, wo Alicja Kwade immerhin seit über 20 Jahren lebt und arbeitet, wurde sie mit Ausstellungen nicht gerade verwöhnt. Abgesehen von der erwähnten Soloschau „Von Explosionen zu Ikonen“ 2008 sowie den regelmäßigen Präsentationen ihrer Kunst in der sie vertretenden König Galerie, richtete ihr das Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf 2015 eine Retrospektive unter dem Titel „Monolog aus dem 11ten Stock“ aus. Das liegt schon einige Jahre zurück, ist aber unabhängig vom Zeitpunkt und Ort bezeichnend für die Konsequenz, mit der die Künstlerin ihre Konzepte umsetzt, ihr Bildvokabular erweitert und weiterentwickelt, ohne ihre Sujets grundlegend zu verändern. Sie verwandelte die gutbürgerliche Villa in ein mehrteiliges Kuriositätenkabinett, in eine Wunderkammer mit Uhren, die sich zwar hin und her bewegten, doch immer zweieinhalb Minuten vor elf zeigten, oder andere, die, mit verspiegeltem Glas überzogen, unter ihren glatten Oberflächen leise vor sich hin tickten. Zu den Objekten, die ihrer ursprünglichen Verwendung trotzen, gehörte auch eine gerollte Tür. Ihr Titel „Eadem Mutata Resurgo“ bezieht sich auf die Logarithmische Spirale, mit der sich der Schweizer Mathematiker und Physiker Jakob I. Bernoulli (1654–1705) beschäftigte, der einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie geleistet hat. Der lateinische Spruch bedeutet auf Deutsch: „Verwandelt kehr' ich als dieselbe wieder“. Alicja Kwade geht den irdischen und kosmischen Problemen auf den Grund, indem sie ihre Bestimmung und Ausschließlichkeit in Frage stellt. Sie zeigt, dass ein Ding nicht nur eckig oder rund, sondern sowohl so als auch anders sein kann. Spiegel beschlagen von selbst oder werden zu Staub, Äste sind mal echt, mal täuschend echt, Trichter aus Kupfer bilden kommunizierende Gefäße, unter denen Häufchen aus zermahlenen Steinen liegen. Die auf Hochglanz polierten Oberflächen von Alicja Kwades „Hypothetischem Gebilde“ verzerren die sich darin Spiegelnden und scheinen sie aufzusaugen, während die Menschen am Rande des malerischen Abgrunds stehen. Die Künstlerin gestaltet auch bronzene „Marsmelonen“ und „Quantenbananen“, lässt Radios und Fahrräder pulverisieren und stellt ihre chemische Zusammensetzung in Konservengläsern mit weißen Deckeln in Museumsvitrinen aus. Auf solche Gedanken zu kommen und sie zu visualisieren: Das alleine ist schon eine besondere Kunst.
In diversen Universen
Alicja Kwade beschäftigt sich dementsprechend mit Phänomenen, die schwer zu verstehen, zu vermitteln und zu veranschaulichen sind, obwohl sie unser tägliches Leben vom Anfang bis zum Ende bestimmen und begleiten: Raum und Zeit und alles, was sich darin so und nicht anders ereignet. Sie schöpft ihre Inspirationen aus der Wissenschaft, bevorzugt aus der Relativitätstheorie. Sie hat ein Faible für theoretische Konstrukte und misstraut ihnen zugleich. Die Zeit gibt es wirklich, obwohl sie niemand greifen und so richtig begreifen kann. Sie steht nie, geht immer vorwärts und vergeht. Warum sie aber so und nicht anders gemessen wird, das ist für Alicja Kwade die Frage. Es könnte womöglich eine andere Zeitmessung, eine andere Struktur der Zeit geben – und wenn, dann welche? Die Systeme, die unserem Leben zugrunde liegen, wurden ausgedacht und mutierten zur Norm, um es zu ordnen und überschaubarer zu machen. Sind diese Strukturen einzig und ewig – oder könnten auch andere existieren? Ist die Wirklichkeit, also die Welt, in der wir uns bewegen, singulär oder gibt es auch Paralleluniversen?
Paradoxe Manuskripte
Man muss keine Ahnung von der Raumzeit-Krümmung, von den Zwillingsparadoxa und den Wurmlöchern haben, um an der ambivalenten und paradoxen Welt dieser Künstlerin Gefallen zu finden. Es ist eine Welt der einfachen und altbekannten Dinge, die uns so vertraut sind, dass wir über ihre Funktionalität und ihren Zweck nicht nachdenken müssen und deshalb verblüfft sind, wenn sie in einer anderen Form erscheinen: gebogen, in Einzelteile zerlegt und zermahlen. Ein anderes Thema, dem Alicja seit 2006 nachgeht, ist das der Einzigartigkeit und Einmaligkeit des Individuums. Sie kopierte eigenhändig Manuskripte mehr oder weniger bekannter Menschen, darunter einen Brief des Erfinders, Physikers und Elektroingenieurs Nikola Tesla (1856–1943), veränderte geringfügig seinen Vornamen und ließ das Ergebnis von einem Münchner Graphologen begutachten und zertifizieren. Und siehe da: Er bescheinigte, dass der Briefschreiber männlich und im mittleren Alter sei, einen Sinn für Humor habe, zum Exzess und Verschwendung neige, kurzum, es handle sich um eine „kreative und schillernde Persönlichkeit.“ Die vierteilige Papierarbeit „Beeing Nicola Tesla“ ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass Alicja Kwade, deren Vorname außerhalb von Polen wer weiß warum mit s ausgesprochen wird, Teslas gegenwärtige Doppelgängerin Alisja sein könnte. Mehrere solche Briefe aus der Serie „Beeing…“ wurden unter dem deutschen Titel „Sein..“ 2018 im Neuen Berliner Kunstverein präsentiert. Die Frage der Identität wird auch im Mittelpunkt ihrer pandemiebedingt mehrmals verschobenen Ausstellung „In Abwesenheit“ stehen, die hoffentlich am 30. April 2021 in der Berlinischen Galerie – Museum für Moderne Kunst eröffnet werden kann und, wie auf der Webseite zu lesen ist, „auf neueren Arbeiten von Alicja Kwade basiert, die sich im weiteren Sinn als Selbstporträts lesen lassen. Kwade geht der Frage nach, wie sich ein Mensch und seine physische Präsenz im Raum beschreiben lässt: über den eigenen Herzschlag, den individuellen DNA-Code oder mit den chemischen Elementen, aus denen sich der Mensch zusammensetzt.“
ParaPivot auf einem Dach in New York
Da Alicja Kwade seit mehreren Jahren zu den gefragtesten Künstlerinnen gehört und sich um sie führende Museen in Deutschland und weltweit reißen, unterhält sie ein großes Studio in Berlin-Oberschöneweide, wo sie fast 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt – und genügend Platz hat, um ihre Fundstücke wie Steine, Uhren, Äste, Paletten und all die Dinge aufzubewahren, die sie für die Fertigung ihrer immer voluminöser werdenden Objekte und Objektgruppen benötigt. 2019 konnten im Dachgarten des Metropolitan Museum of Art in New York ihre Skulpturen „ParaPivot I und II“ bewundert werden, eine Art begehbares und offenes Astrolabium aus mehreren Stahlrahmen, die sich überschneiden und worauf neun wie durch ein Wunder befestigte Kugeln (Planeten) hingen, als hätte sie die Schwerekraft außer Acht gelassen. Zum anderen eröffnete diese luftige Konstruktion ungeahnte Ausblicke auf die Skyline von New York, deren Fragmente jedes Mal in einem anderen Rahmen betrachtet werden konnten. Eine gerahmte, wirkliche, urbane Landschaft im Freien als eine Reihe von Bildern zu servieren, das ist ein Kunststück sondergleichen.
Kausalkonsequenz in Neuss & und was noch kommt
Draußen, im Innern, auf dem Rasen, im und auf dem Wasser erstreckt sich Alicja Kwades Ausstellung „Kausalkonsequenz“, die Anfang September 2020 in der Langen Foundation eröffnet wurde und bis Anfang August 2021 dauern wird. Die tonnenschweren Kugeln aus Sandstein, Spiegel, Äste und Anti-Äste etc., gehen einen Dialog mit der transparenten und schwebenden Architektur des Japaners Tadao Ando ein, sodass ein vielschichtiges, fast schon ätherisches Gesamtkunstwerk entsteht, das zu jeder Tages- und Jahreszeit und bei jeder neuen Begehung, Umrundung oder Blickrichtung anders aussieht.
Nachdem Alicja Kwade mit ihren Inszenierungen in, auf und rund um die Museen und andere Kunstorte unter Beweis stellte, dass sie jeden Raum perfekt und mit viel Esprit gestalten, verzaubern und durch die Spiegelungen scheinbar unendlich erweitern kann, hat sie sich in einem noch nicht versucht: dem der Oper. Eine unausweichliche Kausalkonsequenz verlangt ihre Präsenz auf den Brettern, die diese Parallelwelt bedeuten. Da Alicja das Zeug zu einer begnadeten Bühnenbildnerin hat, wird ihr auch dort der Erfolg garantiert beschieden sein.
Urszula Usakowska-Wolff, Februar 2021
Interview mit Alicja Kwade (von Urszula Usakowska-Wolf):
http://www.kunstdunst.com/als-kuenstlerin-gebe-ich-mir-formal-keine-einschraenkungen-alicja-kwade-im-gespraech-mit-urszula-usakowska-wolff/
(letzter Aufruf: 6. Februar 2021)
Alicja Kwade wird von der König Galerie in Berlin vertreten.