Brygida Helbig
Brygida Helbig macht keinen Hehl daraus, dass ihre literarischen Texte verfremdete biographische Details enthalten. In diesem Sinne ist der 2013 erschienene Roman „Niebko“ [dt. „Kleine Himmel”, übersetzt von Natalie Buschhorn, KLAK Verlag, Berlin 2019, Anm. d. Übers.] ihr bisher persönlichstes Werk. Er beschreibt die komplexen Schicksale der Familien, die es nach 1945 in die polnischen Westgebieten verschlagen hatte, zumal nach Stettin. Die Protagonistin des Romans, Marzena, „flickt das Familienschicksal und nebenbei sich selbst zusammen, indem sie eine Geschichte erzählt, die irgendwie bekannt vorkommt. In ihr überschneiden sich zwei Familienlinien, beide aus dem Osten, beide geprägt von Erfahrungen des Krieges, der Besatzung und der Umsiedlung in die zurückgewonnen Gebiete, die versuchen, ihren Platz in der Realität der Volksrepublik Polen zu finden.“[2] Vor dem Hintergrund der Vertreibung, der Flucht und der Gewalt sowie durch die Schilderung der Schicksale ihrer Vorfahren, die einerseits aus den polnischen Ostgebieten kamen (und später nach Kasachstan deportiert wurden), andererseits aus dem Südwesten Deutschlands stammen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Galizien angesiedelt wurden und seitdem unter polnischen, jüdischen und ukrainischen Nachbarn lebten, präsentiert Brygida Helbig grandios einen Mix von Schicksalen und Kulturen in einem nur scheinbar homogenen Land. In „Kleine Himmel“ kommt das Gefühl der Entfremdung erneut zur Sprache, hier jedoch mit einem Unterton der Hoffnung, die aus der Fähigkeit der Menschen, sich an immer wieder neue Lebensbedingungen anzupassen, erwächst. Auch dieser Roman wurde von der Literaturkritik gewürdigt und war 2014 unter den sieben Finalisten des „Nike“-Literaturpreises.
2016 erschien Brygida Helbigs Roman „Inna od siebie“ (Anders als sie selbst), der von der Literatin Maria Komornicka handelt, die 1907 im Alter von 31 Jahren beschloss, ihre Kleider zu verbrennen, sich dann wie Männer kleidete und erklärte, sie sei ein Mann. Komornicka, die sich seitdem Piotr Odmieniec Włast nennt, lehnt es ab, als Frau behandelt zu werden. Die Geschlechtsumwandlung wird jedoch in ihren Kreisen nicht toleriert. Diese schließen die bis dato als talentiert angesehene Autorin aus dem kulturellen Leben aus. Von der Familie wiederum wird Piotr Włast in psychiatrische Anstalten gesteckt, bevor er dauerhaft zur Familie seines Bruders auf das Anwesen der Familien in Grabów nad Pilicą [Ort südlich von Warschau am Fluss Pilica, Anm. d. Übers.] zieht. „Inna od siebie” schaffte es bis ins Finale des Literaturpreises der Stadt Warszawa (Warschau). Auf der Grundlage dieses Romans entstand das Theaterstück „Maria K.” in der Regie von Agnieszka Bresler. Die Geschichte der Maria Komornicka oder Piotr Włast begleitete Helbig schon seit Jahren, da sie sich bereits 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über das literarische Werk von Komornicka habilitiert hatte. Ein Jahr später erschien ihre Habilitationsschrift in Deutschland unter dem Titel „Ein Mantel aus Sternenstaub. Geschlechtstransgres und Wahnsinn bei Maria Komornicka“, 2010 folgte die polnische Fassung als „Strącona bogini. Rzecz o Marii Komornickiej“ (Die gestürzte Göttin. Über Maria Komornicka). „Durch die Beschäftigung mit Komornicka verstand ich, dass es an der Zeit ist, sich der Vergangenheit und der Realität zu stellen, sich mit sich selbst vertraut zu machen, und dass man seinen Selbstwert nicht von der Anerkennung durch andere abhängig machen sollte. (...) Dank ihr habe ich meine eigenen Entscheidungen sowie meinen eigenen Anteil an einer Situation verstanden. Auch den Anteil anderer, und zwar derer, die sich schwer tun, die fremde Andersartigkeit, den Widerwillen gegen die Anpassung und die andere Sensibilität zu akzeptieren.“[3] – so schrieb Brygida Helbig in der „Gazeta Wyborcza“ über Komornickas Rolle in ihrem Leben. „Strącona bogini” wurde mit dem Rektorenpreis der Universität Stettin ausgezeichnet.
Neben ihrer literarischen und wissenschaftlichen Arbeit engagiert sich Brygida Helbig auch für diverse Initiativen. Sie organisiert und moderiert Lesungen, unter anderem in Zusammenarbeit mit der deutsch-polnischen Buchhandlung „Buchbund” in Berlin, und sie leitet literarische Schreibwerkstätten. Wissenschaftlich unterstützt sie die Aktivitäten der im Oktober 2014 mit ihrer Hilfe gegründeten Universität der Drei Generationen/Uniwersytet Trzech Pokoleń in Berlin, die sich sowohl für Deutsche und Polen als auch generationenübergreifend als Plattform für Dialog und Gedankenaustausch versteht. Ihre Leistungen wurden auch von den Auslandspolen, der Polonia, gewürdigt. Für ihren Roman „Kleine Himmel“ wurde Brygida Helbig 2016 in Wien mit der „Goldenen Eule“ in der Kategorie Literatur geehrt. Der Preis gilt als der Oscar der Polonia und wird im Ausland engagierten Polen und Ausländern verliehen, die Beiträge zur Förderung freundschaftlicher Beziehungen zu Polen leisten.
Das Gefühl der Andersartigkeit, die Suche nach der eigenen Identität, die Emigration, auch die innere, die Auflehnung und die Auferstehung aus der Asche, dies alles kennt Brygida Helbig aus eigenem Erleben und dies nimmt auch einen festen Platz in ihrem Schaffen ein, wobei die Autorin sich nicht als Exilautorin versteht. Die wertvollen Aspekte des Lebens und der Arbeit im Ausland sieht sie unter anderem in der: „phantastischen Möglichkeit, die fremde Kultur von innen erleben zu können. Das bereichert enorm, sofern wir uns der Andersartigkeit nicht verschließen und die Welt nicht in starren, klischeehaften Kategorien betrachten ... Nach einigen Jahren des Eintauchens in die hiesige Wirklichkeit ist es nicht mehr möglich, die typisch »polnische« Identität zu bewahren. Es entsteht eine neue Identität des Menschen, der einerseits entwurzelt, andererseits an zwei Orten zu Hause ist, wenngleich in beiden Kulturen nur mit jeweils einem Bein.”[4]
Monika Stefanek, Oktober 2019
[2] Aleksandra Lipczak, Brygia Helbig, „Niebko“. Auf: Culture.pl. Online: https://culture.pl/pl/dzielo/brygida-helbig-niebko
[3] Brygida Helbig, Tajemnica Piotra Własta (Akademia Opowieści). In: Gazeta Wyborcza, Tygodnik Szczecin, vom 23.03.2017. Online: https://szczecin.wyborcza.pl/szczecin/7,150424,21540446,tajemnica-piotra-wlasta-akademia-opowiesci.html?disableRedirects=true/
[4] Bronisław Mamoń, Pisarze polscy w Niemczech. In: Tygodnik Powszechny, Nr. 31, vom 4. August 2002.