Brygida Helbig

Porträt Brygida Helbig
Porträt von Brygida Helbig, entstanden im Rahmen des von dem „Club der polnischen Versager“ ins Leben gerufenen Projekts „Polnische Partei Deutschlands“.

Brygida Helbig (eigentlich Dr. Brigitta Helbig-Mischewski, Pseudonym Anna Maria Birkenwald, Professorin an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen) kam 1963 in Szczecin (Stettin) zur Welt. Nach dem Abitur am renommierten Gymnasium „II Liceum Ogólnokształcące“, nahm sie ihr Studium der Polonistik an der Pädagogischen Hochschule (Wyższa Szkoła Pedagogiczna) ihrer Heimatstadt auf, der Vorgängerin der in den 1980er Jahren gegründeten Universität Stettin (Uniwersytet Szczeciński). Mit kaum 20 Jahren beschließt Helbig, Polen aus überwiegend persönlichen Gründen zu verlassen. Am frühen Morgen des 1. November 1983 steigt sie in Nordrhein-Westfalen am Bahnhof Wanne-Eickel aus und lässt sich zunächst in Herten im Ruhrgebiet nieder. Daraufhin verlagert sich ihr Lebensmittelpunkt zeitweilig an die holländische Grenze. In Anrath bei Krefeld besucht sie eine Sprachschule für Spätaussiedler, um danach das Kolleg für Spätaussiedler in Geilenkirchen zu besuchen, wo sie 1985 ihr deutsches Abitur ablegt, um schließlich Slawistik und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum zu studieren. 1991, ein Jahr nach ihrem ersten akademischen Abschluss, erhält sie ein Promotionsstipendium des Cusanuswerks, der Begabtenförderung der katholischen Kirche. Ihre Doktorarbeit ist Maria Janion [polnische Literaturwissenschaftlerin, Anm. d. Übers.] und dem New-Age-Diskurs in der polnischen Literatur der 1970er und 1980er Jahre gewidmet. 1994 wird ihr an der Ruhr-Universität Bochum, an der sie mit Professor Michael Fleischer auch den studentischen literarischen Club „Dichter-Fressen” gegründet hatte, der Doktortitel verliehen.

Brygida Helbigs erste literarische Texte erscheinen Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift „FA-art“. Aus den dort veröffentlichten Fragmenten einer Geschichte über das Heranwachsen einer jungen Frau im sozialistischen Polen entsteht später der Roman „Pałówa“ (Knüppel-Prügel), erschienen 2000 im Danziger Verlag „b1“. Zuvor publiziert die Autorin in Berlin Gedichte und Rezensionen in der Hausschrift „Kolano” (Das Knie) des „Clubs der polnischen Versager“ (Klub Polskich Nieudaczników). Zugleich ist sie wissenschaftlich tätig, indem sie Vorlesungen und Seminare für Studenten des Instituts für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin hält, wo sie bis 2005 beschäftigt ist. In dieser Zeit erhält sie in Anerkennung ihrer pädagogischen Arbeit zwei Mal den Preis der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität. In den Folgejahren arbeitet sie an der Karls-Universität Prag und an der Universität Stettin sowie im Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut am Collegium Polonicum in Słubice, einer Nebenstelle der Adam-Mickiewicz-Universität Posen (Uniwersytet Adama Mickiewicza w Poznaniu, UAM). Ihre wissenschaftlichen und literaturkritischen Texte auf den Feldern der Kulturwissenschaft, der Literaturgeschichte, der interkulturellen Kommunikation sowie über Feminismus und Gender-Themen erscheinen in zahlreichen Zeitschriften, etwa in der „Zeitschrift für Slawistik“, in „Teksty Drugie“, „Twórczość“, „Pogranicza“, „Odra”, im „Anzeiger für slawische Philologie“ und vielen anderen Periodika. Helbig verfasst außerdem regelmäßig Rundfunkbeiträge für die polnische Redaktion des Berliner Radiosenders COSMO und sie schreibt unter anderem für den „Tagesspiegel”, „ZEIT ONLINE” und die „Gazeta Wyborcza”.

Nachdem der Lehrstuhl für Slawistik der Humboldt-Universität 2005 geschlossen wurde, setzt Brygida Helbig ihre wissenschaftliche Arbeit fort, indem sie Aufsätze und Bücher zur Exilliteratur sowie über den „Club der polnischen Versager“, über die Krise der Männlichkeit, über Henryk Bereska, Olga Tokarczuk und weitere Autorinnen ihrer Generation schreibt sowie über das Trauma der Generationen in den Romanen von Inga Iwasiów und Magdalena Tulli, über die autobiographische „Post-DDR-Literatur“ sowie über den polnischen Schriftsteller Bruno Schultz und viele andere Literaturschaffende, wobei immer mehr Zeit in ihre eigene schriftstellerische Arbeit fließt. 2005 erscheint der groteske Kurzroman „Anioły i świnie. W Berlinie!“ [dt. „Engel und Schweine“, übersetzt von Lothar Quinkenstein, freiraum-verlag, Greifswald 2016, Anm. d. Übers.], mit dem sie bekannt wird. In dieser Geschichte aus dem Migranten- und Campusmilieu, die das Schicksal polnischer Einwanderer in die Bundesrepublik humoristisch erzählt, spielt sie mit den klassischen Vorurteilen und zwingt zur Reflexion, wie es gelingt, durch unumgängliche Anpassung seinen Platz in einer Welt zu finden, in die man verschlagen wurde und die einem selbst nach Jahren noch nicht ganz vertraut ist. Diese weibliche Version eines „Wurstemigranten“ wurde von dem Roman „Klub Kiełboludów“ von Leszek Oświęcimski inspiriert [dt. „Klub der polnischen Wurstmenschen”, übersetzt von Adam Gusowski, Versager Verlag, Berlin 2002, Anm. d. Übers.]. Einer der größten Vorzüge von Helbigs Roman besteht in seiner durchgängigen Ironie, über die Przemysław Czapliński in der „Gazeta Wyborcza“ folgendermaßen schrieb: „Die Ironie vereinnahmt alles: die Deutschen, unsere Emigranten, die Protagonistin, aber auch die schematischen, scheinbar banalen Erzählmuster des Romans. Bezeichnet die Polin sich und ihre Landsleute als ‚Schweine in Berlin‘ und schildert sie, wie diese ‚Schweine‘ ihre Individualität einfordern, dann meint sie sicher nicht die Polnischen Schweine. Somit eignet sie sich nicht die Perspektive anderer an. Was sie schreibt, enthält viel Trauriges, aber auch Leben, ebenso viel melancholisches Lächeln wie Mut.“[1]

Das Motiv der Entfremdung und der Auflehnung in „Engel und Schweine“ kehrt in Helbigs „Enerdowce i inni ludzie“ [dt. „Ossis und andere Leute”, übersetzt von Paulina Schulz, freiraum-verlag, Greifswald 2015, Anm. d. Übers.] aus dem Jahr 2011 gewissermaßen mit doppelter Wucht zurück. Dieser Sammelband enthält satirische Erzählungen über die Schicksale ehemaliger DDR-Bürger, sogenannter „Ossis“, im vereinten Deutschland und ihre Versuche, sich in der neuen Wirklichkeit zurecht zu finden. Doch wie sich herausstellt, ist die Bundesrepublik Deutschland – das Land von dem viele träumten und glaubten, dass dort Milch und Honig flössen – den neuen Bürgern gegenüber gar nicht so aufgeschlossen und wohlgesonnen, wie es noch hinter der Mauer schien, die beide Staaten teilte. Die Mentalitätsunterschiede von Ost und West nehmen nicht ab, sondern sie machen den Protagonisten ganz im Gegenteil immer mehr zu schaffen. Was bleibt, ist das unverarbeitete Trauma, das sich im günstigsten Fall in eine grenzenlose Nostalgie im Hinblick auf das verlorene Land verwandelt und das Gefühl der Benachteiligung durch unerfüllte Hoffnungen nährt. Zugleich zeigt Helbig Eigenschaften der „Ossis” auf, die dazu beitragen könnten, die Welt im Westen „menschlicher“ zu gestalten. 2012 wurde der Erzählband „Enerdowcy i inni ludzie“ von der Jury des renommierten polnischen „Nike“-Literaturpreises mit einer Nominierung gewürdigt, wobei Helbig mit diesem Buch auch im Finale des „Gryfia“-Literaturpreises stand. Außerdem erarbeitete das Berliner „Teatr Studio am Salzufer“ mit Regisseurin Janina Szarek eine auf diesem Buch basierende Aufführung unter dem Titel „Pfannkuchen, Schweine, Heiligenscheine“.

 

[1] P. Czapliński, Anioły i świnie w Berlinie. Fikcja literacka Helbig Brygida. In: Gazeta Wyborcza, vom 19.12.2005. Online: http://wyborcza.pl/1,75517,3074956.html

 

Brygida Helbig macht keinen Hehl daraus, dass ihre literarischen Texte verfremdete biographische Details enthalten. In diesem Sinne ist der 2013 erschienene Roman „Niebko“ [dt. „Kleine Himmel”, übersetzt von Natalie Buschhorn, KLAK Verlag, Berlin 2019, Anm. d. Übers.] ihr bisher persönlichstes Werk. Er beschreibt die komplexen Schicksale der Familien, die es nach 1945 in die polnischen Westgebieten verschlagen hatte, zumal nach Stettin. Die Protagonistin des Romans, Marzena, „flickt das Familienschicksal und nebenbei sich selbst zusammen, indem sie eine Geschichte erzählt, die irgendwie bekannt vorkommt. In ihr überschneiden sich zwei Familienlinien, beide aus dem Osten, beide geprägt von Erfahrungen des Krieges, der Besatzung und der Umsiedlung in die zurückgewonnen Gebiete, die versuchen, ihren Platz in der Realität der Volksrepublik Polen zu finden.[2] Vor dem Hintergrund der Vertreibung, der Flucht und der Gewalt sowie durch die Schilderung der Schicksale ihrer Vorfahren, die einerseits aus den polnischen Ostgebieten kamen (und später nach Kasachstan deportiert wurden), andererseits aus dem Südwesten Deutschlands stammen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Galizien angesiedelt wurden und seitdem unter polnischen, jüdischen und ukrainischen Nachbarn lebten, präsentiert Brygida Helbig grandios einen Mix von Schicksalen und Kulturen in einem nur scheinbar homogenen Land. In „Kleine Himmel“ kommt das Gefühl der Entfremdung erneut zur Sprache, hier jedoch mit einem Unterton der Hoffnung, die aus der Fähigkeit der Menschen, sich an immer wieder neue Lebensbedingungen anzupassen, erwächst. Auch dieser Roman wurde von der Literaturkritik gewürdigt und war 2014 unter den sieben Finalisten des „Nike“-Literaturpreises.

2016 erschien Brygida Helbigs Roman „Inna od siebie“ (Anders als sie selbst), der von der Literatin Maria Komornicka handelt, die 1907 im Alter von 31 Jahren beschloss, ihre Kleider zu verbrennen, sich dann wie Männer kleidete und erklärte, sie sei ein Mann. Komornicka, die sich seitdem Piotr Odmieniec Włast nennt, lehnt es ab, als Frau behandelt zu werden. Die Geschlechtsumwandlung wird jedoch in ihren Kreisen nicht toleriert. Diese schließen die bis dato als talentiert angesehene Autorin aus dem kulturellen Leben aus. Von der Familie wiederum wird Piotr Włast in psychiatrische Anstalten gesteckt, bevor er dauerhaft zur Familie seines Bruders auf das Anwesen der Familien in Grabów nad Pilicą [Ort südlich von Warschau am Fluss Pilica, Anm. d. Übers.] zieht. „Inna od siebie” schaffte es bis ins Finale des Literaturpreises der Stadt Warszawa (Warschau). Auf der Grundlage dieses Romans entstand das Theaterstück „Maria K.” in der Regie von Agnieszka Bresler. Die Geschichte der Maria Komornicka oder Piotr Włast begleitete Helbig schon seit Jahren, da sie sich bereits 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über das literarische Werk von Komornicka habilitiert hatte. Ein Jahr später erschien ihre Habilitationsschrift in Deutschland unter dem TitelEin Mantel aus Sternenstaub. Geschlechtstransgres und Wahnsinn bei Maria Komornicka“, 2010 folgte die polnische Fassung als „Strącona bogini. Rzecz o Marii Komornickiej“ (Die gestürzte Göttin. Über Maria Komornicka). „Durch die Beschäftigung mit Komornicka verstand ich, dass es an der Zeit ist, sich der Vergangenheit und der Realität zu stellen, sich mit sich selbst vertraut zu machen, und dass man seinen Selbstwert nicht von der Anerkennung durch andere abhängig machen sollte. (...) Dank ihr habe ich meine eigenen Entscheidungen sowie meinen eigenen Anteil an einer Situation verstanden. Auch den Anteil anderer, und zwar derer, die sich schwer tun, die fremde Andersartigkeit, den Widerwillen gegen die Anpassung und die andere Sensibilität zu akzeptieren.“[3] – so schrieb Brygida Helbig in der „Gazeta Wyborcza“ über Komornickas Rolle in ihrem Leben. „Strącona bogini” wurde mit dem Rektorenpreis der Universität Stettin ausgezeichnet.

Neben ihrer literarischen und wissenschaftlichen Arbeit engagiert sich Brygida Helbig auch für diverse Initiativen. Sie organisiert und moderiert Lesungen, unter anderem in Zusammenarbeit mit der deutsch-polnischen Buchhandlung „Buchbund” in Berlin, und sie leitet literarische Schreibwerkstätten. Wissenschaftlich unterstützt sie die Aktivitäten der im Oktober 2014 mit ihrer Hilfe gegründeten Universität der Drei Generationen/Uniwersytet Trzech Pokoleń in Berlin, die sich sowohl für Deutsche und Polen als auch generationenübergreifend als Plattform für Dialog und Gedankenaustausch versteht. Ihre Leistungen wurden auch von den Auslandspolen, der Polonia, gewürdigt. Für ihren Roman „Kleine Himmel“ wurde Brygida Helbig 2016 in Wien mit der „Goldenen Eule“ in der Kategorie Literatur geehrt. Der Preis gilt als der Oscar der Polonia und wird im Ausland engagierten Polen und Ausländern verliehen, die Beiträge zur Förderung freundschaftlicher Beziehungen zu Polen leisten.

Das Gefühl der Andersartigkeit, die Suche nach der eigenen Identität, die Emigration, auch die innere, die Auflehnung und die Auferstehung aus der Asche, dies alles kennt Brygida Helbig aus eigenem Erleben und dies nimmt auch einen festen Platz in ihrem Schaffen ein, wobei die Autorin sich nicht als Exilautorin versteht. Die wertvollen Aspekte des Lebens und der Arbeit im Ausland sieht sie unter anderem in der: „phantastischen Möglichkeit, die fremde Kultur von innen erleben zu können. Das bereichert enorm, sofern wir uns der Andersartigkeit nicht verschließen und die Welt nicht in starren, klischeehaften Kategorien betrachten ... Nach einigen Jahren des Eintauchens in die hiesige Wirklichkeit ist es nicht mehr möglich, die typisch »polnische« Identität zu bewahren. Es entsteht eine neue Identität des Menschen, der einerseits entwurzelt, andererseits an zwei Orten zu Hause ist, wenngleich in beiden Kulturen nur mit jeweils einem Bein.”[4]

 

Monika Stefanek, Oktober 2019

 

[2] Aleksandra Lipczak, Brygia Helbig, „Niebko“. Auf: Culture.pl. Online: https://culture.pl/pl/dzielo/brygida-helbig-niebko

[3] Brygida Helbig, Tajemnica Piotra Własta (Akademia Opowieści). In: Gazeta Wyborcza, Tygodnik Szczecin, vom 23.03.2017. Online: https://szczecin.wyborcza.pl/szczecin/7,150424,21540446,tajemnica-piotra-wlasta-akademia-opowiesci.html?disableRedirects=true/

[4] Bronisław Mamoń, Pisarze polscy w Niemczech. In: Tygodnik Powszechny, Nr. 31, vom 4. August 2002.

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  • Porträt Brygida Helbig

    Porträt von Brygida Helbig, entstanden im Rahmen des von dem „Club der polnischen Versager“ ins Leben gerufenen Projekts „Polnische Partei Deutschlands“.
  • Brygida Helbig mit Natalie Buschhorn und Jörg Becken

    Brygida Helbig mit Natalie Buschhorn, der Übersetzerin des Romans „Kleine Himmel“, und Verleger Jörg Becken vom Berliner KLAK-Verlag.
  • Finale des „Nike“-Literaturpreises

    Finale des „Nike“-Literaturpreises.
  • Brygida Helbig

    Brygida Helbig.
  • Mit dem Übersetzer Lothar Quinkenstein

    Brygida Helbig mit dem Übersetzer Lothar Quinkenstein.