Alli Neumann

Die Musikerin Alli Neumann
Die Musikerin Alli Neumann

Als die bisher längste Station ihrer Karriere beschreibt Alli Neumann das Jahrzehnt, in dem sie alles andere als finanziell erfolgreich war. Zwar liebte sie das Musizieren und die Auftritte mit verschiedenen Blues- und Rockbands, aber wenn die Konzerte schlecht besucht, die Gagen niedrig und die Reaktionen oft verhalten sind, dann kann auch eine positive Person wie Alli Neumann Zweifel an den eigenen Entscheidungen bekommen. Sollten am Ende doch diejenigen Recht behalten, die ihren Traum von einer Karriere als Sängerin als naiv abgetan hatten? Reichten Talent und Hingabe allein womöglich doch nicht aus, um sich einen Namen zu machen?

Zur Musik entwickelte Neumann früh ein inniges Verhältnis. Als Kind entdeckte sie zusammen mit ihrem Vater auf einem Trödelmarkt eine Platte von Connie Francis und war von Songs wie „Schöner fremder Mann“ begeistert. Selbstbewusst und auftrittsfreudig wie sie schon als Dreikäsehoch war, gab sie Lieder von Connie Francis oder France Gall in Altersheimen zum Besten. Als sich ihr Interesse an Schlagern verflüchtigte, lernte Alli Neumann Gitarre und probierte sich unter anderem am Blues, einer Musikrichtung, die in Polen ungemein populär ist und die sie früh durch ihren Opa mütterlicherseits in Polen kennenlernte. Der war ein großer Bluesliebhaber, spielte Mandoline und Geige, während die Mutter Posaune blies. Alli musizierte und sang früh mit den Erwachsenen zusammen: Lieder von Czesław Niemen oder Stare Dobre Małżeństwo. Später entdeckte sie die Musikerin Maryla Rodowicz als Inspiration, zusammen mit den Lyrics von Agnieszka Osiecka, die für Neumann „zeitlos“ und „poetisch“ sind. Als weitere Vorbilder nennt die Künstlerin vor allem starke polnische Frauen wie Renata Przemyk und Agnieszka Chylińska, aber auch Ralph Kaminski oder Brodka. Auch Gwen Stefani, Prince, Oasis oder Alanis Morissette zählt Neumann zu ihren frühen Einflüssen und erinnert sich an Stadtfeste, auf denen sie mit entsprechenden Coverversionen auftrat. Ihren eigenen musikalischen Stil bezeichnet sie heute als „alternative Popmusik mit verzerrten Gitarren und einer Prise Funk und Blues“. Dann ergänzt sie: „Aber ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich liebe viele Richtungen und möchte mich da nicht festlegen.“

Mit dem Schreiben eigener Lieder begann Alli Neumann als Teenager. In einem Video-Interview erklärt sie ironisch zu ihrer Jugend in Nordfriesland: „Da konnte man entweder den ganzen Tag Alkohol trinken oder Musik machen.“ Im „Ton-Steine-Scherben“-Haus in Fresenhagen bewegt sie sich im Umfeld der dortigen Musiker:innen und wird von Jochen Hansen, dem ehemaligen Bassisten von Rio Reiser, ermutigt, eigene Songs zu komponieren. Bereits als Vierzehnjährige hat sie einen Plattenvertrag unterzeichnet und bricht kurzerhand die Schule ab. Rückblickend spricht sie von einer „Oberkatastrophe“ und sagt: „Ich war noch gar nicht bereit dafür. Und ich glaube, ich habe auch sehr, sehr schlechte Musik gemacht.“

Alli Neumann sortiert sich neu, macht doch noch einen Schulabschluss und startet dann durch: 2018 spielt sie eine der beiden Hauptrollen in Kim Franks Fernsehfilm „Wach“. Im gleichen Jahr erscheint mit „Hohes Fieber“ ihre erste EP als Solokünstlerin. 2019 folgt mit „Monster“ die zweite EP und mit der Single „Zeit steht“ (einer Kollaboration mit dem Sänger Trettmann und dessen Produzententeam „Kitschkrieg“) landet Neumann einen Hit, der es in die Top Ten der Deutschen Charts schafft und bis heute über 40 Millionen Mal gestreamt wurde. 2020 spielte Neumann eine Hauptrolle in Detlev Bucks Gangsterkomödie „Wir können nicht anders“.

Das folgende Jahr wird ein ganz besonderes für Alli Neumann, denn 2021 gründet sie unter dem ihr eigene Musiklabel JAGA Recordings, auf dem sie zusammen mit der Sony-Music-Firma „Four Music“ ihr erstes vollständiges Album herausbringt. Es trägt den Titel „Madonna Whore Komplex“, womit Neumann auf Freuds Annahme abzielt, aus männlicher Sicht seien Frauen oft entweder Huren oder Heilige. Dieser simpel-sexistischen Einteilung setzt Neumann die befreiende Sichtweise entgegen, dass Menschen sich von Rollenbildern befreien und alles Mögliche sein können. Wie schon auf den EPs singt Alli Neumann ihre Songs auch auf ihrem erfolgreichen Debüt auf Deutsch. 

In ihrer Jugend sang Alli Neumann ihre Lieder auf Englisch. Wenn Freund:innen ihr sagten: „Sing doch mal auf Deutsch, das ist bestimmt noch geiler“, konnte sie das nicht nachvollziehen. Bis sie einmal spontan einen Songtext von sich ins Deutsch übersetze, um den Anderen zu zeigen, wie bescheuert das klang. Tat es aber nicht. Sie war selbst erstaunt darüber, wie die Worte nun eine viel direktere Wirkung erzielten.

Dabei hat Alli Neumann zwei Muttersprachen: Deutsch und Polnisch. Ihre polnische Mutter siedelte für den deutschen Vater zunächst in dessen Heimat um, fühlte sich dort aber ziemlich allein. Es zog sie zurück ins Land ihrer Freund:innen und Familie. So reiste die kleine Alina-Bianca kurz nach ihrer Geburt in Solingen zusammen mit ihren Eltern in die Nähe von Rzeszów, der Hauptstadt der Woiwodschaft Karpartenvorland ganz im Südosten Polens. Sie erinnert sich gerne an ihre Zeit im Land der Mutter: „Ich habe meine Kindheit in Polen geliebt“, sagt sie. „Wir haben da auf einem Bauernhof mit allen möglichen Tieren gelebt. Außerdem gab es vor Ort viele Kinder und ich habe eigentlich im ganzen Dorf gelebt: mal bei der Tante geschlafen, mal bei Nachbarskindern.“ Die Erinnerung an diese unbeschwerte Zeit voller ungezwungener Nähe zu ihren Eltern, Schwestern, Verwandten und Freund:innen bewahrt Alli Neumann wie einen Schatz. Bis heute blüht für sie die wundervolle Zeit ihrer Kindheit wieder auf, sobald sie in Polen ist. Sie liebt die polnische Musik, die Sprache, die „wunderschönen Städte, die so erfüllt sind von Kunst und Geschichte“. Auch ist sie beeindruckt von der Solidarność-Bewegung, mit der große Teile der polnischen Bevölkerung über Jahrzehnte friedlichen Protest übten. Heute bewundert Alli Neumann die Ausdauer mit der Frauen im Rahmen des „Strajk Kobiet“ („Frauenstreik“) in Polen für ihre Rechte eintreten.

Mindestens ein- oder zweimal im Jahr fährt Alli Neumann nach Polen, wo der größte Teil ihrer Familie lebt. Außerdem hat die Sängerin Freund:innen in Warschau und Kraków. Gerade Kraków zieht sie magisch an: „Zum Schreiben ist das für mich die inspirierendste aller Städte“, sagt sie und ergänzt: „Ich liebe es in Kazimierz im Café zu sitzen und zu lesen oder zu schreiben.“

Aber auch in Deutschland fühlt sich die Künstlerin wohl. Vor allem der Norden hat es ihr angetan. Hamburg beschreibt sie als die perfekte Mischung aus „gesellschaftlichem Regenbogen und nordischer Ruhe“, die hanseatische Mentalität als „bodenständig, aber weltoffen“. Neumann erlebt die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Menschen aus unterschiedlichen Szenen und Kulturen als große Bereicherung, wünscht sich aber, dass die polnische Kultur noch sichtbarer wird. Sie sagt: „Erst durch den Strajk Kobiet habe ich auch in Deutschland neue polnische Freund:innen getroffen. Ich fände es toll, wenn wir als polnische Community auch öfter mal in einem unbeschwerteren Kontext zusammenkommen würden.“ Aus Neumanns Sicht leben die Pol:innen ihre Kultur oft nur zuhaue im Privaten und geben sich in der Öffentlichkeit als angepasste Deutsche. Sie träumt von einem polnischen Festival in Hamburg: „Brodka, Quebonafide, Ofelia – alle sollen da spielen. Und an jeder Ecke gibt es Zapiekanka und Kwas!“

 

Anselm Neft, Januar 2022

       

Die Künstlerin im Netz:

https://www.allineumann.com/   

Die Künstlerin im Podcast „Halbe Katoffl“: Alli Neumann: Identitäts-Peptalk, Kartonkleid & Mamas Lebenswerk (vom 1. November 2023):

halbekatoffl.de/alli-neumann-polen/