Die zwei Herzen der Margaux Kier
Margaux Kier (eigentlich Margot Kieruj) kam in den 1960er Jahren in Bydgoszcz (dt. Bromberg) als erstes Kind der Eheleute Kieruj zur Welt. Sie hat einen Bruder Bogdan und eine Stiefschwester Lavinia. Mutter Krystyna war Juristin, Vater Otto Benedykt Ingenieur. Die Kindheit in Bydgoszcz erinnert Margaux als unbeschwerte Zeit. Sie wohnte in der Łokietka-Straße 4 und besuchte die [achtjährige – Anm. d. Übers.] Grundschule Nr. 10. Das Mädchen zeichnet sich durch Bestleistungen aus, gehört dem Mathematik-Zirkel an und arbeitet auf die Teilnahme an der Olympiade im Fach Russisch hin.
Ihre künstlerische Begabung tritt früh hervor. In der Schule lernt Margaux, Flöte zu spielen. Im Elternhaus einer Freundin bringt sie sich selbst das Klavierspiel bei. Sie wirkt im Puppentheater mit und erinnert sich bis heute noch an den Spaß, als sie in der Rolle des Wichtels den Part des Erzählers übernahm. In der Schule wirkt sie als Rezitatorin und im Chor an Veranstaltungen mit. In diesem Zusammenhang ist ihr die große Solidarität der Mitschüler:innen bleibend in Erinnerung, aber auch das Engagement ihrer Lehrer:innen und die Herzenswärme der Eltern ihrer Schulkamerad:innen. Anlässlich eines Geburtstags macht ihr die Mutter einer Freundin ein Geschenk wie für einen Erwachsenen – ein Buch, das sie immer noch besitzt: Shakespeares „Hamlet“. Kurz danach lernt sie das Stück mit Jan Englert in der Hauptrolle als Fernsehspiel kennen und ist elektrisiert. Und als sie das Festival in Sopot (dt. Zoppot) im Fernsehen sieht, hat sie den Wunsch, dort auch einmal auftreten zu wollen. Diese Phantasie und diese Unbeschwertheit werden auch nicht durch die Ausreise der Eltern nach Westdeutschland getrübt.
Die Eltern von Margaux reisten als Touristen in Deutschland ein, schlossen sich dem Zweig der Familie väterlicherseits an und kehrten nicht mehr nach Polen zurück. Ihre zehnjährige Tochter und ihr Sohn verweilten dort in der Obhut ihrer Großeltern. Ein Touristenvisum war damals die einzige Möglichkeit, um auszureisen. Für Margaux lief ihr Leben weiter. Sie erhält Zeugnisse mit Auszeichnungen, trägt Gedichte vor, nimmt an Festivitäten ihrer Schule teil und wirkt weiter im Puppentheater mit. Die Einstellung der Mitschüler:innen und der Lehrer:innen zu ihr und zu ihrem Bruder ändern sich nicht. Nur die Großeltern werden gelegentlich von der Polizei vernommen. 1972 ist es dann so weit. Der Antrag auf Familienzusammenführung wird genehmigt.
Die Familienzusammenführung
Am Tag ihrer Abreise wird Margaux von ihrer Klasse und Lehrkräften zum Zug begleitet. Zum Abschied gibt es Bücher und Maskottchen von der Klassenlehrerin und den Kammerad:innen. Es ist ein frostiger Novemberabend und was für ein Zufall... just an diesem Abend brennt das Bromberger Bahnbetriebswerk. Margaux hat das Gefühl, als ob ihr ganzes bisheriges Leben von einem Feuer erfasst worden sei. Die beiden Kinder werden von der Schwester ihrer Großmutter bis nach Ostberlin begleitet. Margaux verbringt daraufhin das erste halbe Jahr mit ihren Eltern bei den Schwestern ihres Großvaters im nordrhein-westfälischen Gummersbach und besucht dort schon nach einer Woche das Guttenberg-Gymnasium. Als hochbegabtes Kind wird sie ins kalte Wasser geworfen, doch sie erfüllt alle Erwartungen und spricht in nur wenigen Monaten fließend Deutsch. In der Freizeit holt sie mit Hilfe ihrer Mutter und der Tanten Englisch und Latein nach. Nach ihrer Versetzung in die achte Klasse zieht die Familie nach Köln. Margaux kommt auf das Hansa-Gymnasium, das für sein hohes Niveau in den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie und Chemie bekannt ist. Da die Schule damals noch ein Jahr vor der Koedukation steht, verbringt sie ihr erstes Jahr in einer reinen Jungenklasse. In dieser Zeit tritt der Sport in ihr Leben, dem sie dann ihre volle Integration verdankt. Als sehr gute Basketballspielerin gehört sie der Schulmannschaft an. Aus diesem Team schafft sie den Sprung in die Regionalliga und anschließend sogar in die Bundesliga. Achtzehn Jahre lang fährt sie jedes Wochenende zu den Spielen, selbst dann noch als sie Mutter wird.
Als sechzehnjährige Gymnasiastin entdeckt Margaux ihre Leidenschaft für den modernen Ausdruckstanz. Da sie gern malt wählt sie außerdem Kunst als Fach. Sport und Kunst sind aber nicht die einzigen Betätigungen, in denen sie Bestnoten erreicht. Das Abiturzeugnis, das sie später ausgehändigt bekommt, ist ein Traum. Mit dem Notendurchschnitt 1 stehen ihr alle Hochschulen offen.