Henryk Górecki: Sinfonie der Klagelieder
Für maßgebende Komponisten, Kenner und vor allem deutschsprachige Kritiker der Avantgarde-Musik war die Uraufführung in Royan ein kompletter Reinfall. Górecki (Abb. 1), der bei der Uraufführung anwesend war, berichtete später, ein führender französischer Komponist – möglicherweise war es Boulez – habe nach dem Verklingen der letzten Akkorde des dritten Satzes einen deutlich hörbaren Kraftausdruck („merde“) verlauten lassen.[12] Heinz Koch schrieb in der im Bärenreiter-Verlag in Kassel erschienenen Zeitschrift Musica. Zweimonatsschrift für alle Gebiete des Musiklebens: „Da schleift einer drei alte Volksliedmelodien (und sonst nichts) 55 endlose Minuten lang“ und kategorisierte die Sinfonie als „Apotheose des Heiligenbildkitsches“.[13] Der Musikpublizist und Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau, Hans-Klaus Jungheinrich (1938-2018), schrieb in der Karlsruher Zeitschrift Hi-Fi-Stereophonie, dem offiziellen Organ des Deutschen High-Fidelity-Instituts: „‚Aktuell‘ schien diese Nicht-Komposition einzig deshalb, weil sie den Holzweg einer kindischen ‚Neuen Einfachheit‘ ein für alle Mal offenlegte, zur eindringlichen Warnung für alle, die an wirklicher musikalischer Fortentwicklung interessiert sind.“[14]
Der Komponist und Musikkritiker Dietmar Polaczek (1942-2020), seit 1976 Leiter der Musikredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bemängelte in der Österreichischen Musikzeitschrift, Góreckis Musik würde mit den drei verwendeten Texten „Frommes, Naives und schreckliche Erinnerungen in leicht konsumierbaren Wohlklang“ hüllen und damit verharmlosen: „Eine allerdings unfreiwillige Provokation enthielt dieses Werk neben seinem Textmissbrauch: Es brach aus dem Konformismus einer Avantgarde aus, […] aber das Epigonentum umgab in langweiligen Schutthalden schon immer die herausragenden Gipfel. Warum sollte sich das in der Gegenwart geändert haben?“[15] In Polen erntete das Stück jedoch überragende Bewunderung. Das vierzehntägig erscheinende Musikmagazin Ruch Muzychny (dt. Musikalische Bewegung) berichtete aus Royan, die Sinfonie sei vor allem aufrichtig und voll edler Einfachheit.[16] Der Musikkritiker Józef Kański (*1928) und andere polnische Kollegen waren von Ernest Bours sicherer Kontrolle über die expressiven Qualitäten der Partitur und dem Gesang von Stefania Woytowicz beeindruckt.[17]
Die polnische Premiere fand auf dem Warschauer Herbst-Festival für zeitgenössische Musik am 25. September 1977 statt.[18] Das Warschauer Philharmonische Nationalorchester/Orkiestra Filharmonii Narodowej w Warszawie spielte unter der Leitung von Andrzej Markowski (1924-1986). Die Sopransoli sang wiederum Stefania Woytowicz.[19] Die Reaktionen von Publikum und Fachwelt waren gemischt. Der Warschauer Musikwissenschaftler Ludwik Erhardt (*1934), Chefredakteur der Zeitschrift Ruch Muzyczny, fühlte sich gereizt und gelangweilt zugleich und bemerkte, der Komponist habe die Grenzen der hohen Kunst verlassen. Tadeusz A. Zieliński (1931-2012), ebenfalls Musikwissenschaftler und renommierter Buchautor, behauptete, die Komposition widerspreche allen grundlegenden musikalischen Traditionen und es ermangele ihr an Gefühl, Form, Aufrichtigkeit und Geschmack. Andere bejubelten sie als Meisterstück und Werk eines Genies.[20] In den folgenden Jahren wurde die Sinfonie in Polen nahezu jedes Jahr auf Musikfestivals gespielt, unter anderem 1978 auf dem 22. Warschauer Herbst-Festival, 1979 in Poznań beim 19. Musik-Frühling sowie in Bydgoszcz auf dem 17. Musik-Festival/Bydgoski Festiwal Muzyczny. Die in Warschau erscheinende englisch-deutschsprachige Zeitschrift Polish Music - Polnische Musik hielt die Erinnerung an diese Aufführungen für die Fachwelt in den westlichen Staaten wach.[21] Den Sopran-Part bestritt regelmäßig Stefania Woytowicz, ebenso 1978 in Budapest und 1980 in Jerewan und Tiflis.
[12] Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), vor Anmerkung 7; vergleiche auch Luke B. Howard: Motherhood, Billboard, and the Holocaust. Perceptions and Receptions of Górecki’s Symphony No. 3, in: The Musical Quarterly, Band 82, Heft 1, Frühjahr, New York 1998, Seite 131-159, sowie Luke B. Howard: Henryk M. Górecki Symphony No.3 (1976) as a Symbol of Polish Political History, in: The Polish Review, Band 52, Nr. 2, University of Illinois Press, Champaign, IL, 2007, Seite 215-222, hier Seite 216
[13] Heinz Koch: „Mit wichtigen bundesdeutschen Beiträgen“, in: Musica. Zweimonatsschrift für alle Gebiete des Musiklebens, Band 31, Heft 4, Kassel und andere 1977, Seite 332
[14] Hans-Klaus Jungheinrich: Das Avantgarde-Musikfestival in Royan, in: Hi-Fi-Stereophonie. Zeitschrift für Schallplatte, Tonband, HF-Stereophonie, Nr. 16 (Juli), Karlsruhe 1977, Seite 810
[15] Dietmar Polaczek: Neue Musik in Royan, in: Österreichische Musikzeitschrift, Band 32, Juli-August, Wien 1977, Seite 358
[16] Anonym: Górecki. III Symfonia, in: Ruch Muzyczny 21/23, Krakau 1977, Seite 17
[17] Józef Kański: XIV Festiwal w Royan, in: Ruch Muzyczny 21/13, Krakau 1977, Seite 15
[18] Adrian Thomas: Iwaszkiewicz on Górecki (2012), auf: On Polish Music, https://onpolishmusic.com/2012/02/01/%E2%80%A2-iwaszkiewicz-on-gorecki/
[19] Aufnahme des Polnischen Radios/Polskie Radio und Einführung in das Werk (englisch) auf: ninateka.pl, https://ninateka.pl/kolekcje/en/three-composers/gorecki/audio/iii-symfo…, in polnischer Sprache: https://ninateka.pl/kolekcje/trzej-kompozytorzy/gorecki/audio/iii-symfonia-symfonia-piesni-zalosnych-op-36
[20] Anonym: Górecki. III Symfonia, in: Ruch Muzyczny 21/23, Krakau 1977, Seite 17, zitiert nach: Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), vor Anmerkung 12-14
[21] Vergleiche Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 15