Henryk Górecki: Sinfonie der Klagelieder
Im Herbst 1973 reiste Górecki zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern nach West-Berlin, um ein einjähriges Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) im Rahmen des Berliner Künstlerprogramms wahrzunehmen.[1] Die Einladung hatte schon seit langem bestanden, jedoch hatten gesundheitliche Probleme und die Geburt seines Sohnes, des späteren Komponisten Mikołaj Piotr, im Februar 1971 den Studienaufenthalt bislang verhindert. In Berlin erkrankte Górecki erneut während des Jahreswechsels 1973/74 mit Nierenproblemen und benötigte ein halbes Jahr um sich davon zu erholen. Bei seiner Rückkehr nach Polen beschloss das Ehepaar zunächst, nach Warschau zu ziehen, entschied sich jedoch schließlich für Kattowitz, wo Górecki an der Staatlichen Musikakademie studiert und später als Dozent gearbeitet hatte. 1975 nahm er dort den Ruf als Rektor an die auf das Jahr 1929 zurückgehende Musikakademie/Akademia Muzyczna w Katowicach an.
Bereits einige Monate vor seinem Aufenthalt in Berlin hatte Górecki den ebenfalls an der Musikakademie lehrenden Ethnologen und Musikwissenschaftler Adolf Dygacz (1914-2004) nach interessanten, alten Melodien in dessen Sammlung gefragt, wie der britische Spezialist für polnische Musik, Adrian Thomas (*1947), in seiner grundlegenden Werkbiografie über Górecki schreibt.[2] Dygacz antwortete mit vier Liedern aus Schlesien, darunter einem Volkslied aus der Gegend von Oppeln. Es ist das Klagelied einer Mutter, deren Sohn bei einem Aufstand ums Leben kam: „Kajze mi sie podzioł mój synocek miły? / Wohin ist er gegangen, mein geliebter Sohn?“[3] Während die Melodie vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt, geht der Text auf die Aufstände in Oberschlesien in den Jahren 1919 bis 1921 zurück. Mit diesem Lied begann für Górecki, so Thomas, die über drei Jahre dauernde Konzeption und Vervollständigung der 3. Sinfonie (Symfonia pieśni żałosnych/Sinfonie der Klagelieder), Op. 36, für Sopran solo und Orchester. „Für mich ist dies ein wundervoll poetischer Text“, referierte Górecki 1977 während einer Musik-Konferenz in Baranów Sandomierski: „Ich weiß nicht, ob ein ‚professioneller‘ Dichter eine solch kraftvolle schöpferische Einheit aus derart prägnanten und einfachen Worten kreieren könnte. Es sind nicht Trauer, Verzweiflung, Resignation oder Händeringen: Es sind der Kummer und das Klagen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat.“
Górecki begann mit der Komposition, sah sich jedoch bald unüberwindbaren Schwierigkeiten gegenüber, auf Grundlage der überlieferten Melodie eine ähnlich dichte Harmonie wie in seinen vorangegangenen Stücken zu erzielen. Er legte das Material beiseite und suchte nach weiteren Texten, die den ersten ergänzen konnten. Den folgenden Textabschnitt seiner künftigen Sinfonie fand er in dem 1970 erschienenen Buch von Alfons Filar und Michał Leyko, „‚Palace‘. Katownia Podhala“ (dt. ‚Palace‘. Die Folterkammer des Podhale), das die Gräueltaten der deutschen Gestapo in dem zur Kommandantur der Sicherheitspolizei umfunktionierten Hotel Palace in Zakopane zwischen 1939 und 1945 schildert. In den im Keller untergebrachten Gefängniszellen wurden nach dem Krieg in die Wände eingekratzte Namen und Schriftzeilen gefunden. Darunter befand sich auch ein Graffito der dort seit dem September 1944 gefangen gehaltenen achtzehnjährigen Helena Wanda Błażusiakówna aus Szczawnica: „Mamo, nie płacz, nie. Niebios Przeczysta Królowo. Ty zawsze wspieraj mnie. Zdrowaś Mario. / Nein, Mutter, weine nicht. Unbefleckte Himmelskönigin. Steh mir allzeit bei. Ave Maria“, von dem Teile auf ein Lied des polnischen Widerstands aus dem Jahr 1918 zurückgehen. Górecki referierte 1977, er müsste zugeben, dass er stets von großen Worten beeindruckt worden sei: „Vielleicht im Angesicht des Todes würde ich selbst in dieser Weise aufschreien. Aber der Satz, den ich fand, ist anders, gleichsam eine Entschuldigung oder Rechtfertigung dafür, dass sie [die Verfasserin] sich selbst in eine solche Lage gebracht hatte; sie sucht Trost und Unterstützung in einfachen, kurzen, aber bedeutungsvollen Worten. Ich mag solche Texte: einfach und kurz.“
Auf der Suche nach einem weiteren Text mit einer ähnlichen Stimmung entschied sich Górecki für den vierten Vers aus dem „Lament świętokrzyski“ (dt. Heiligkreuz-Klagelied), einem Planctus von etwa 1470, dessen Handschrift im Heiligkreuz-Benediktinerkloster auf dem Berg Łysa Góra in Südostpolen offenbar im Zweiten Weltkrieg verloren ging: „Synku miły i wybrany. Rozdziel z matką swoje rany … / Geliebter, auserwählter Sohn. Teile mit der Mutter deine Wunden …“ Hierzu bemerkte Górecki später in seinem Vortrag: „Dieser Text war volkstümlich und anonym. Jetzt hatte ich drei Abschnitte, drei Personen. Ursprünglich wollte ich diese Texte mit einer Einführung und einer Schlussfolgerung abschließen und entschied mich für zwei Verse aus den Psalmen 93 und 94 in der Übersetzung von Wujek: ‚Herr, sie zerschlagen dein Volk und plagen dein Erbe …‘“ Letztlich beschloss Górecki jedoch, sich auf die ersten drei Klagelieder zu beschränken.
[1] Vergleiche die Gästeliste für das Jahr 1973, https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/gaeste.php. „Seit 1963 werden in den Sparten bildende Kunst, Film, Literatur und Musik jährlich etwa zwanzig international bekannte wie qualifizierte Künstler aller Altersgruppen, die bereits eine herausragende, eigenständige künstlerische Position und einen Werkkorpus vorweisen können, für zwölf Monate nach Berlin eingeladen.“ https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/stipendien.html
[2] Thomas 1997 (siehe Literatur), Seite 81-94; von dort der folgende Bericht und die eingeschlossenen Zitate.
[3] Vollständige Texte siehe Anhang
In seinen frühen, zwischen 1958 und 1960 entstandenen Kompositionen hatte sich Górecki am Minimalismus der westlichen Avantgarde, vor allem an Pierre Boulez (1925-2016), orientiert und sich damit programmatisch vom in Polen gerade untergehenden Sozialistischen Realismus abgesetzt.[4] Auf dem Warschauer Herbst/Warszawska Jesień des Jahres 1960, dem größten Festival für zeitgenössische Musik in Polen, präsentierte er sich zusammen mit Krzysztof Penderecki (1933-2020), Witold Lutosławski (1913-1994), Kazimierz Serocki (1922-1981) und Tadeusz Baird (1928-1981) einem erstaunten Publikum als Vertreter der Neuen Musik und Mitglied einer „ganz eigenständigen neuen Komponistengeneration“. Sein auf diesem Festival uraufgeführtes Orchesterwerk „Scontri“, Op. 17, „wurde zum Symbol der polnischen musikalischen Avantgarde“.[5] Die von Boulez vorgegebene punktuelle Serialität fügte er – führend unter seinen Landsleuten – zu größeren Satzeinheiten zusammen, die „extrovertiert“ und „eruptiv“, so Thomas, kumulieren. Im Verlauf der 1960er-Jahre schlug er jedoch, ähnlich wie der Este Arvo Pärt (*1935), einen eigenen Weg ein. Unter weiterhin serieller Behandlung von Tonhöhe, Dynamik und Tondauer fand er zu einer geradezu meditativen Wahrnehmung von Zeit sowie zu strukturellen Kontrasten von Melodieblöcken und Refrains. Charakteristisch wurden langsame Tempi, dynamische Extreme, modale Harmonik, sparsame Texturen und eine „ökonomische Konzentration des Materials“, wobei der Komponist auch polnische Musik des Mittelalters und der Renaissance zitierte.[6]
Am Anfang der 1970er-Jahre begann Górecki mit einer zwei Jahrzehnte anhaltenden Serie von A-capella-Chorwerken sowie Kompositionen für Singstimme, Chor und Orchester, die in einer Trilogie aus der 2. (Op. 31, 1972) und 3. Sinfonie (Op. 36, 1976) und dem „Beatus Vir“ (Op. 38, 1979) einen ersten Höhepunkt fand. Mit der 3. Sinfonie kreierte er mit „direktesten technischen Mitteln“ (Thomas) einen sehr persönlichen ausdrucksstarken, gefühlvollen, lyrischen Minimalismus, der im tief empfundenen römisch-katholischen Glauben des Komponisten wurzelte und in der polnischen Musik keine Parallelen fand.
Alle drei Sätze der Sinfonie sind langsam gehalten und steigern sich bis zum Einsetzen der Singstimme „in einem stetigen Fluss“ (Feuchtner). Trotz der starken Orchesterbesetzung bestimmen vor allem die Streicher das musikalische Geschehen, während Harfe und Klavier Akzente setzen. Die Bläser intensivieren die dichte Klangwirkung durch Liegetöne. E-Moll, b-Moll und a-Moll sind die erkennbaren Grundtonarten der drei Sätze, auch wenn die Partitur ohne Vorzeichen notiert ist.[7]
Der erste Satz, mit einer Dauer von rund 27 Minuten etwa so lang wie die beiden folgenden zusammen, enthält die umfangreiche Marienklage aus dem Heiligkreuz-Kloster vom Berg Łysa Góra. Das instrumentale Vorspiel, eine ruhige Meditation über ein dreitöniges Motiv, erstreckt sich über die erste Hälfte des Satzes und besteht aus einem präzise ausgearbeiteten Kanon mit verschiedenen Instrumenten. Das Sopran-Solo, die Marienklage, erscheint tief empfunden und würdevoll. Nach ihrem Ende fällt die Musik in die Litanei des Anfangs zurück und präsentiert sich erneut als Kanon über dasselbe Motiv. Im populär gewordenen zweiten Satz (Dauer: 10‘) präsentiert die Singstimme nach einer kurzen Einleitung mit Streichern, Harfe und Klavier die Anrufung Marias aus dem Gestapo-Gefängnis in Zakopane zu Streicherklängen und Grundtönen der Bläser. Ausgerufen in großen Melodiebögen, die aus einer Volksmelodie und einem weiteren melodischen Fragment bestehen, endet der Gesang in den beiden ersten Versen des polnischen Ave Maria. Im dritten Satz (Dauer: 17‘) erwächst die Klage der Mutter um ihren gefallenen Sohn aus Variationen über ein einfaches Motiv zu Streichern, Harfe und Klavier. Sie mündet in eine Coda, „die dem Atmen nachgebildet ist und in tröstenden Akkorden ausläuft – die Musik schlägt um von modalen Tonarten in reines A-Dur. Diese Musik zu interpretieren verlangt weder besondere Virtuosität noch außergewöhnliche Spieltechniken, aber eine spirituelle Energie und die Fähigkeit, über lange Zeiträume einen Bogen zu spannen. Vom Zuhörer verlangt sie Hingabe und Offenheit …“[8] Góreckis Minimalismus verbinde sich hier, so Feuchtner, mit einer neuen Religiosität, die sich auch gegen das seinerzeitige kommunistische politische Regime in Polen richtete und sich mit dem katholischen Widerstand solidarisierte.
[4] Thomas 2002 (siehe Literatur), Spalte 1358
[5] Bernd Feuchtner im Programm der Badischen Staatskapelle Karlsruhe anlässlich des 4. Sonderkonzerts am 23.05.2014 während der 22. Europäischen Kulturtage in Karlsruhe, Seite 8 (siehe PDF 1)
[6] Thomas 2002 (siehe Literatur), Spalte 1358
[7] Feuchtner 2014 (siehe Anmerkung 5), Seite 8 f.
[8] Ebenda, Seite 10
Henryk Mikołaj Józef Górecki wurde am 6. Dezember 1933 im Dorf Czernica westlich von Rybnik in Oberschlesien geboren. Die Mutter, Otylia, stammte aus einer Bergarbeiterfamilie in Zabrze und spielte leidenschaftlich Klavier. Sie starb schon am zweiten Geburtstag ihres Sohnes. Ihr Bruder Alfred schrieb Gedichte, spielte Violine, Akkordeon und komponierte. Der Vater, Roman Górecki, war Eisenbahnangestellter, bewirtschaftete den kleinen Bauernhof der Familie am Rand von Czernica und war ebenfalls Amateurmusiker. Nach Otylias Tod heiratete er erneut und baute mit dem Erbe seiner verstorbenen Frau ein Haus in Rydułtowy, woher seine Familie stammte. Dort wuchs Henryk auf und besuchte das Gymnasium. Mit zehn Jahren bekam er Geigen- und später Klavierunterricht bei einem ortsansässigen Instrumentenmacher und Laienmusiker. Bald begann er zu komponieren, zunächst Lieder und Miniaturen, und war Anfang der 1950er-Jahre immerhin so weit, eine umfangreichere Sonate für Streichquintett im Stil von Arcangeli Corelli (1653-1713) zu komponieren.
Nach dem Gymnasialabschluss 1951 bewarb er sich erfolglos für ein Studium an verschiedenen Musikschulen und entschied sich schließlich für eine dreijährige Ausbildung als Grundschullehrer. Ab 1952 konnte er diese an der pädagogischen Abteilung der Staatlichen Musikschule Rybnik/Państwowa Szkoła Muzyczna w Rybniku komplettieren und bildete sich dort an Klavier, Klarinette und Violine sowie in Harmonielehre, Kontrapunkt, Instrumentation und Volksmusik aus. In seiner Freizeit komponierte er, bewarb sich 1955 mit einem stattlichen Konvolut von Kompositionen an der Staatlichen Musikakademie in Kattowitz und studierte dort bis 1960 Komposition bei Bolesław Szabelski (1896-1979), einem Schüler von Karol Szymanowski (1882-1937). Mit Szymanowski und Chopin sei er groß geworden, berichtete er später. Beethoven, Szymanowski und Chopin hätten immer im Zentrum seines Interesses gestanden, aber auch Mozart, Schumann, Schubert, Brahms und Bach.[9] Mit Stipendien reiste er 1961 und 1963 zu mehrmonatigen Studienaufenthalten nach Paris, wo er Boulez, Olivier Messiaen (1908-1992) und Karlheinz Stockhausen (1928-2007) kennen lernte. Ab 1965 unterrichtete er selbst an der Musikakademie in Kattowitz, ab 1972 als Dozent, seit 1977 als ordentlicher Professor. Von 1975 bis 1979 war er Rektor der Musikakademie und trat zuletzt, vom politischen Regime kaltgestellt und wegen permanenter Einmischung durch die kommunistische Partei Polens, von diesem Posten zurück.[10]
Die Komposition der 3. Sinfonie führte Górecki auf der Grundlage der 1973 begonnenen Vorarbeiten zwischen dem 30. Oktober und dem 30. Dezember 1976 aus, also im zweiten Jahr seines Direktorats an der Musikakademie in Kattowitz.[11] Der offizielle Auftrag des Südwestfunks Baden-Baden dürfte im Frühjahr 1976, etwa ein Jahr vor der geplanten Uraufführung, erfolgt sein. International bekannt war der Komponist zu diesem Zeitpunkt nicht nur durch seine leitende Position, sondern auch durch ein vorangegangenes Auftragswerk, die 2. Sinfonie mit dem Untertitel „Kopernikowska“, ein monumentales Werk für große Besetzung mit Solo-Sopran, Bariton, Chor und Orchester, das die Kosciuszko Foundation in New York anlässlich des 500. Geburtstags des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473-1543) in Auftrag gegeben hatte. Es war im Juni 1973 vom Sinfonieorchester der Nationalphilharmonie Warschau/Orkiestra Symfoniczna Filharmonii Narodowej in der polnischen Hauptstadt uraufgeführt worden, erlangte aber nie die weltweite Bedeutung der späteren 3. Sinfonie. Das dritte Werk der Trilogie, „Beatus vir“ für Bariton solo, gemischten Chor und großes Orchester, wurde 1977 von Kardinal Karol Wojtyła (1920-2005), seit 1978 Papst Johannes Paul II., zum 900. Jahrestag der Ermordung des Heiligen Stanislaus von Krakau (†1079) in Auftrag gegeben und 1979 in Krakau in Anwesenheit des Papstes vom dortigen Philharmonischen Orchester uraufgeführt. Auftrag, Komposition und Uraufführung dieses Werks führten letztlich zur vollständigen Überwachung Góreckis durch die kommunistische Partei, seinen Ausschluss von allen offiziellen Funktionen des Rektorats und schließlich zu seinem Rücktritt.
Die Uraufführung der 3. Sinfonie, der „Sinfonie der Klagelieder“, durch das in Baden-Baden beheimatete Sinfonieorchester des Südwestfunks am 4. April 1977 während des 14. Internationalen Festivals für zeitgenössische Kunst in Royan stand unter der Leitung von Ernest Bour (1913-2001), der das Orchester seit 1964 als Chefdirigent führte. Den Solopart sang die polnische Sängerin Stefania Woytowicz (1922-2005; Konzertprogramm siehe PDF 2), die über ein großes Repertoire an zeitgenössischer Musik verfügte und bereits die Sopranstimme in der Uraufführung der 2. Sinfonie gesungen hatte. Das zuvor als Großes Orchester des Südwestfunks, später als SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bezeichnete Orchester hatte sich bereits unter dem vorangegangenen Chefdirigenten, Hans Rosbaud (1895-1962), und spätestens seit dem ersten Auftritt auf den Donaueschinger Musiktagen für zeitgenössische Tonkunst 1950 auf Uraufführungen Neuer Musik spezialisiert.
[9] Henryk Górecki am 18.07.1997 in Zakopane, zitiert nach: Polish Music Center (siehe Online)
[10] Thomas 1997 (siehe Literatur), Seite XIII-XVIII, 41 f.; Thomas 2002 (siehe Literatur), Spalte 1357
[11] Ausführlich recherchiertes und kommentiertes Werkverzeichnis bei Thomas 1997 (siehe Literatur), Seite 162 f.
Für maßgebende Komponisten, Kenner und vor allem deutschsprachige Kritiker der Avantgarde-Musik war die Uraufführung in Royan ein kompletter Reinfall. Górecki (Abb. 1), der bei der Uraufführung anwesend war, berichtete später, ein führender französischer Komponist – möglicherweise war es Boulez – habe nach dem Verklingen der letzten Akkorde des dritten Satzes einen deutlich hörbaren Kraftausdruck („merde“) verlauten lassen.[12] Heinz Koch schrieb in der im Bärenreiter-Verlag in Kassel erschienenen Zeitschrift Musica. Zweimonatsschrift für alle Gebiete des Musiklebens: „Da schleift einer drei alte Volksliedmelodien (und sonst nichts) 55 endlose Minuten lang“ und kategorisierte die Sinfonie als „Apotheose des Heiligenbildkitsches“.[13] Der Musikpublizist und Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau, Hans-Klaus Jungheinrich (1938-2018), schrieb in der Karlsruher Zeitschrift Hi-Fi-Stereophonie, dem offiziellen Organ des Deutschen High-Fidelity-Instituts: „‚Aktuell‘ schien diese Nicht-Komposition einzig deshalb, weil sie den Holzweg einer kindischen ‚Neuen Einfachheit‘ ein für alle Mal offenlegte, zur eindringlichen Warnung für alle, die an wirklicher musikalischer Fortentwicklung interessiert sind.“[14]
Der Komponist und Musikkritiker Dietmar Polaczek (1942-2020), seit 1976 Leiter der Musikredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bemängelte in der Österreichischen Musikzeitschrift, Góreckis Musik würde mit den drei verwendeten Texten „Frommes, Naives und schreckliche Erinnerungen in leicht konsumierbaren Wohlklang“ hüllen und damit verharmlosen: „Eine allerdings unfreiwillige Provokation enthielt dieses Werk neben seinem Textmissbrauch: Es brach aus dem Konformismus einer Avantgarde aus, […] aber das Epigonentum umgab in langweiligen Schutthalden schon immer die herausragenden Gipfel. Warum sollte sich das in der Gegenwart geändert haben?“[15] In Polen erntete das Stück jedoch überragende Bewunderung. Das vierzehntägig erscheinende Musikmagazin Ruch Muzychny (dt. Musikalische Bewegung) berichtete aus Royan, die Sinfonie sei vor allem aufrichtig und voll edler Einfachheit.[16] Der Musikkritiker Józef Kański (*1928) und andere polnische Kollegen waren von Ernest Bours sicherer Kontrolle über die expressiven Qualitäten der Partitur und dem Gesang von Stefania Woytowicz beeindruckt.[17]
Die polnische Premiere fand auf dem Warschauer Herbst-Festival für zeitgenössische Musik am 25. September 1977 statt.[18] Das Warschauer Philharmonische Nationalorchester/Orkiestra Filharmonii Narodowej w Warszawie spielte unter der Leitung von Andrzej Markowski (1924-1986). Die Sopransoli sang wiederum Stefania Woytowicz.[19] Die Reaktionen von Publikum und Fachwelt waren gemischt. Der Warschauer Musikwissenschaftler Ludwik Erhardt (*1934), Chefredakteur der Zeitschrift Ruch Muzyczny, fühlte sich gereizt und gelangweilt zugleich und bemerkte, der Komponist habe die Grenzen der hohen Kunst verlassen. Tadeusz A. Zieliński (1931-2012), ebenfalls Musikwissenschaftler und renommierter Buchautor, behauptete, die Komposition widerspreche allen grundlegenden musikalischen Traditionen und es ermangele ihr an Gefühl, Form, Aufrichtigkeit und Geschmack. Andere bejubelten sie als Meisterstück und Werk eines Genies.[20] In den folgenden Jahren wurde die Sinfonie in Polen nahezu jedes Jahr auf Musikfestivals gespielt, unter anderem 1978 auf dem 22. Warschauer Herbst-Festival, 1979 in Poznań beim 19. Musik-Frühling sowie in Bydgoszcz auf dem 17. Musik-Festival/Bydgoski Festiwal Muzyczny. Die in Warschau erscheinende englisch-deutschsprachige Zeitschrift Polish Music - Polnische Musik hielt die Erinnerung an diese Aufführungen für die Fachwelt in den westlichen Staaten wach.[21] Den Sopran-Part bestritt regelmäßig Stefania Woytowicz, ebenso 1978 in Budapest und 1980 in Jerewan und Tiflis.
[12] Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), vor Anmerkung 7; vergleiche auch Luke B. Howard: Motherhood, Billboard, and the Holocaust. Perceptions and Receptions of Górecki’s Symphony No. 3, in: The Musical Quarterly, Band 82, Heft 1, Frühjahr, New York 1998, Seite 131-159, sowie Luke B. Howard: Henryk M. Górecki Symphony No.3 (1976) as a Symbol of Polish Political History, in: The Polish Review, Band 52, Nr. 2, University of Illinois Press, Champaign, IL, 2007, Seite 215-222, hier Seite 216
[13] Heinz Koch: „Mit wichtigen bundesdeutschen Beiträgen“, in: Musica. Zweimonatsschrift für alle Gebiete des Musiklebens, Band 31, Heft 4, Kassel und andere 1977, Seite 332
[14] Hans-Klaus Jungheinrich: Das Avantgarde-Musikfestival in Royan, in: Hi-Fi-Stereophonie. Zeitschrift für Schallplatte, Tonband, HF-Stereophonie, Nr. 16 (Juli), Karlsruhe 1977, Seite 810
[15] Dietmar Polaczek: Neue Musik in Royan, in: Österreichische Musikzeitschrift, Band 32, Juli-August, Wien 1977, Seite 358
[16] Anonym: Górecki. III Symfonia, in: Ruch Muzyczny 21/23, Krakau 1977, Seite 17
[17] Józef Kański: XIV Festiwal w Royan, in: Ruch Muzyczny 21/13, Krakau 1977, Seite 15
[18] Adrian Thomas: Iwaszkiewicz on Górecki (2012), auf: On Polish Music, https://onpolishmusic.com/2012/02/01/%E2%80%A2-iwaszkiewicz-on-gorecki/
[19] Aufnahme des Polnischen Radios/Polskie Radio und Einführung in das Werk (englisch) auf: ninateka.pl, https://ninateka.pl/kolekcje/en/three-composers/gorecki/audio/iii-symfonia-symfonia-piesni-zalosnych-op-36, in polnischer Sprache: https://ninateka.pl/kolekcje/trzej-kompozytorzy/gorecki/audio/iii-symfonia-symfonia-piesni-zalosnych-op-36
[20] Anonym: Górecki. III Symfonia, in: Ruch Muzyczny 21/23, Krakau 1977, Seite 17, zitiert nach: Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), vor Anmerkung 12-14
[21] Vergleiche Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 15
Die erste Schallplattenaufnahme wurde 1978 in Polen von dem Warschauer Musiklabel Polskie Nagrania Muza in einer Aufnahme mit dem Großen Sinfonieorchester des Polnischen Radios/Wielka Orkiestra Symfoniczna PR i TV aus Kattowitz unter der Leitung von Jerzy Katlewicz (1927-2015) herausgebracht (Abb. 2).[22] Es war jedoch eine deutsche Schallplatten-Edition, so der amerikanische Musikwissenschaftler Luke B. Howard, die die weltweite Verbreitung der Sinfonie auf den Weg brachte, nämlich eine 1982 beim Pädagogischen Verlag Schwann in Düsseldorf unter dem Label Schwann Musica Mundi produzierte LP mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung des polnisch-australischen Dirigenten Włodzimierz Kamirski (1943-2017), aufgenommen in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem und fälschlich als „Weltpremiere“ bezeichnet.[23] Auch bei diesen beiden Aufnahmen bestritt Woytowicz den Gesangspart.
Erst 1985 erschien eine vollständige Aufnahme der Uraufführung von 1977 auf einer Schallplatte bei dem Pariser Musiklabel für klassische und zeitgenössische französische Musik, Erato, allerdings ausschließlich in Bezug zu dem französischen Spielfilm „Police“ (1985, dt. „Der Bulle von Paris“) von Maurice Pialat mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle, in dem Teile von Góreckis Sinfonie als Soundtrack fungierten (Abb. 3).[24] Mark Swed, Kritiker der Los Angeles Times, bezeichnete das reißerische Plattencover zwar als „one of the dumbest packaging decisions in modern record-business history“,[25] jedoch begründete dieser Werbegag vermutlich die weltweite Popularisierung von Góreckis 3. Sinfonie, zumal die Musik in der Folge begeisterte Rezensionen in US-amerikanischen Musik- und Schallplatten-Magazinen wie Fanfare, Opus und Tageszeitungen wie der Los Angeles Times erfuhr.[26] Dieselbe Aufnahme erschien 1993 bei dem zur deutschen Polygram gehörenden Plattenlabel Belart[27] (Abb. 4). In den folgenden Jahren erschienen zahlreiche Neuauflagen der bereits existierenden Aufnahmen weltweit unter verschiedenen Labeln und auch auf Compact Disc. Unter anderem brachte das Musiklabel Apex 2003 eine digitale Neuaufnahme der Uraufführung mit dem Sinfonieorchester des Südwestfunks auf CD heraus, die bis heute bei Warner Classics erhältlich ist (Abb. 5).[28] In den späten 1980er-Jahren fanden Aufführungen der 3. Sinfonie unter anderem in Braunschweig, Bonn, Rom, Sydney, Adelaide sowie in verschiedenen Colleges in Minnesota und Virginia statt. Teile der Sinfonie dienten als Soundtrack für Rockgruppen wie die britische Industrial Band Test Dept., für einen britischen Fernsehfilm über Vincent van Gogh und für Tanztheater in den USA, Frankreich und den Niederlanden.
Es war jedoch eine komplette Neueinspielung, die der 3. Sinfonie zu einem nie vorauszuahnenden, weltweiten Siegeszug verhalf. Im Mai 1991 nahm der US-amerikanische Dirigent David Zinman (*1936), zu dieser Zeit Musikdirektor des Baltimore Symphony Orchestra, in den Cine-Tele Sound (CTS) Studios in London mit dem Kammermusik-Ensemble London Sinfonietta, welches das Werk zwei Jahre zuvor in der britischen Hauptstadt aufgeführt hatte, und mit der aus Nashville stammenden Opernsängerin Dawn Upshaw (*1960) die Sinfonie neu auf. Die im deutschen Presswerk der Warner Music Manufacturing Europe in Alsdorf produzierte Compact Disc erschien 1992 bei dem Label Elektra Nonesuch (Abb. 6).[29] Nachdem der britische Klassik-Radiosender Classic FM diese Einspielung 1993 in sein Programm aufgenommen hatte („einer der DJs spielte jeden Samstagmorgen denselben Auszug“[30]), eroberte sie die anglo-amerikanischen Pop-Charts, wo sie im Juli 1993 auf Platz 6 stand. Für 37 Wochen war sie die Nummer 1 des Billboard Classical Albums Chart. Schon im März 1993 berichtete das deutsche Magazin Der Spiegel: „Zehn Jahre lang fand Góreckis ‚Sinfonie der Klagelieder‘ kaum Anklang - nun avanciert sie plötzlich zur ‚bemerkenswertesten Kultplatte aller Zeiten‘ (The Times): Warner Classics liefert von der jüngsten Einspielung des Stücks auf dem Edellabel Nonesuch täglich 8000 Tonträger aus. Der Umsatz liegt schon weit über 200 000 CDs.“ Górecki habe „mittlerweile sogar Mick Jagger und Paul McCartney überrundet“, berichtete Der Spiegel.[31] Er habe sich besser verkauft als Madonna, schrieb der Musikautor Tony Palmer (*1941) im britischen YOU Magazine.[32]
[22] Polskie Nagrania Muza SX 1648 (1978 ff.), 1988 als CD bei Olympia ODC 313, vergleiche auch: Henryk Mikołaj Górecki, "III Symfonia" (Polskie Nagrania) auf: culture.pl, https://culture.pl/pl/dzielo/henryk-mikolaj-gorecki-iii-symfonia-polskie-nagrania; in englischer Sprache: https://culture.pl/en/work/symphony-no-3-of-sorrowful-songs-henryk-mikolaj-gorecki – Discografie zu Henryk Górecki auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/artist/216138-Henryk-G%C3%B3recki
[23] Schwann Musica Mundi LC 1083, VMS 1615 (1983), vergleiche auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/Henryk-Mikolaj-G%C3%B3recki-Stefania-Woytowicz-Radio-Symphonie-Orchester-Berlin-Wlodzimierz-Kamirski-Sin/master/339712. Die LP wurde begleitet durch eine ausgesprochen positive Besprechung von Stephen Whealton: Górecki: Symphony No. 3, in: American Record Guide 46/6 (September), Cincinnati, OH, 1983, Seite 23. Whealton beschrieb die Sinfonie als originelles, direktes und bewegendes Werk, das die Zuhörer vielfach belohnt. Vergleiche Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 16
[24] Erato ERA 9275 (1985); vergleiche auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/G%C3%B3recki-Stefania-Woytowicz-Symphonieorchester-Des-Sudwestfunks-Baden-Baden-Ernest-Bour-Police-Symph/release/2603833
[25] Mark Swed: Poland Spring, in: 7 Days, 01.03.1989
[26] Vergleiche Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 19
[27] Belart 437 964-2 (1993); vergleiche auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/G%C3%B3recki-Stefania-Woytowicz-Ernest-Bour-Sinfonie-Orchester-Des-SWF-Baden-Baden-Symphonie-Nr-3/release/1106559
[28] Apex – 0927 49821 2 (2003), auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/G%C3%B3recki-Stefania-Woytowicz-Symphonieorchester-Des-Sudwestfunks-Baden-Baden-Ernest-Bour-Symphony-No-/release/5460724; bei Warner Classics (2007), https://www.warnerclassics.com/br/release/gorecki-symphony-no3-symphony-sorrowful-songs
[29] Elektra Nonesuch 7559-79282-2 (1992), auf: discogs.com, https://www.discogs.com/de/Henryk-G%C3%B3recki-Dawn-Upshaw-London-Sinfonietta-David-Zinman-Symphony-No-3/release/898934
[30] Ruderer/Welscher 2016 (siehe Online)
[31] Der Spiegel 10/1993 vom 08.03.1993 (siehe Online), Seite 234
[32] Tony Palmer: The Unknown Hero Who Outsells Madonna, in: YOU Magazine vom 04.04.1993
Den Komponisten selbst stilisierten die Printmedien zum „Mythos Górecki“, einen zuvor angeblich völlig unbekannten und obskuren polnischen Komponisten, einen „Nobody der Klassikbranche“, der auf einmal die britischen Pop-Charts „gestürmt“ habe (Der Spiegel). Howard zählte buchstäblich Hunderte zwischen 1993 und 1996 erschienene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel mit diesem Tenor.[33] Noch 1993 und in den folgenden 26 Jahren verwendeten weitere 27 Spielfilme und Fernsehserien die Sinfonie als Soundtrack – von dem Filmdrama „Fearless - Jenseits der Angst“ (1993) mit Jeff Bridges über die Künstlerbiografie „Basquiat“ (1996) von Julian Schnabel, die US-amerikanische Mafia-TV-Serie „Die Sopranos“ (1999 ff.), den Dokumentarfilm „Chernobyl Heart“ (2003) bis zum Action-Film „Suicide Squad“ (2016) und das neueste deutsch-amerikanische Nazi-Kriegsdrama „Ein verborgenes Leben“ (2019) mit dem deutschen Schauspieler August Diehl.[34] Górecki selbst sollen die Plattenverkäufe und vermutlich auch die Rechte an den Soundtracks zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen haben.[35]
Im Bereich der klassischen Musik hat Góreckis 3. Sinfonie seit 1993 im Konzertbetrieb einen angesehen Platz eingenommen. In deutschen Konzertsälen, so scheint es zumindest, wird sie meist bei Festivals, in thematischen Konzertreihen oder bei solchen Konzerten aufgeführt, die unter einem bestimmten Motto stehen. Der Erfolg Anfang der 1990er-Jahre war, so der Musikjournalist Jürgen Ostmann (*1962), sicher auch auf die politischen Ereignisse des vorangegangenen Jahrzehnts zurückzuführen, durch die Polen in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit geraten war: „durch die Wahl des (mit Górecki persönlich befreundeten) Karol Wojtyla zum Papst, den Aufstieg der Gewerkschaft ‚Solidarność‘ und die von Polen ausgehende Wende im ehemaligen Ostblock […] Einer Öffentlichkeit, die Góreckis ‚Sinfonie der Klagelieder‘ offenbar mit der langen Leidensgeschichte der Polen symbolisch in Verbindung brachte.“ Gleichzeitig konnten die Musikliebhaber die anfänglich so geschmähte „Neue Einfachheit“ jetzt auch mit dem parallelen Phänomen der US-amerikanischen „Minimal Music“ und dem „spirituellen Minimalismus“ in Verbindung bringen, wie ihn Arvo Pärt und der Engländer John Tavener (1944-2013) geprägt hatten.[36]
Noch 2018 rekurrierte der polnische Dirigent Krzysztof Urbański (*1982), seit 2015 Erster Gastdirigent des in Hamburg beheimateten NDR Elbphilharmonie Orchesters, bei der Aufführung der 3. Sinfonie im Rahmen der Konzertreihe „My Polish Heart“ in der Elbphilharmonie Hamburg auf die gefühlvollen Werte des Stücks und bezeichnete es in seiner Einführung als „a symphony without music inside. Górecki minimized the musical aspect in the symphony to absolute minimum. And this way he managed to focus on the emotional aspect of the piece. And most importantly on the text.“[37] Eine Aufführung des Konzerthauses Berlin am 24. Mai 2020 unter dem Motto „Nostalgie und Zauber des Klangs“ mit dem Untertitel „Wir sind unsere Gefühle“ unter der Leitung des russischen Dirigenten Andrey Boreyko (*1957) und mit der polnischen Sopranistin Iwona Sobotka (*1981) musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.[38] Ein weiterer Grund für Aufführungen der 3. Sinfonie in diesem Jahrtausend liegt sicher auch darin, dass sich die Texte des 2. und 3. Satzes zu Gedenktagen an die Nazizeit und an den Ersten Weltkrieg in Verbindung bringen lassen.[39]
Axel Feuß, Februar 2021
[33] Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 2
[34] Filmografie zur 3. Sinfonie von Górecki auf der Internet Movie Database (IMDb), https://www.imdb.com/name/nm0330782/?ref_=nv_sr_srsg_0
[35] „Vom Erfolg seines Charthits baute er sich ein Haus in Zakopane am Fuß des Tatra-Gebirges, wo er weiter komponierte (insbesondere drei vom Kronos Quartett in Auftrag gegebene Streichquartette), als Hobby Lehnstühle baute und das er nur selten für Auslandsreisen verließ.“ (Ruderer/Welscher 2016 [siehe Online])
[36] Jürgen Ostmann: Triumph der Einfachheit, im Konzertprogramm „Urbański & Anderszewski“, Elbphilharmonie Hamburg, 17.11.2018 (siehe PDF 3), Seite 11 f.
[37] Live-Video Krzysztof Urbański dirigiert Góreckis Dritte / Elbphilharmonie. NDR Elbphilharmonie-Orchester, Hamburg, 17.11.2018, Sopranstimmen: Barbora Kabátková, Justyna Steczkowska, Grażyna Auguścik, auf: Facebook Live-Videos, https://www.facebook.com/watch/live/?v=495179384322908&ref=watch_permalink, Einführung Minute 5:30
[39] „Vor einhundert Jahren stolperte Europa in den Ersten Weltkrieg, und aus einem forschen Machtspiel wurde millionenfaches Morden. Die Europäischen Kulturtage 2014 wollen in Karlsruhe an diesen folgenschweren Sündenfall des 20. Jahrhunderts erinnern, und diese Konzerte sind ein Teil davon. Sie erinnern einerseits daran, wie rasch aus einer Kulturnation, die für Bach und Beethoven bewundert wird, eine barbarische Mördernation werden kann, aber sie erinnern auch an Komponisten, die zu Kriegsopfern geworden sind.“ (Bernd Feuchtner: Hoffnungen, im Programm zur Aufführung am 23.05.2014 in Karlsruhe, siehe Anmerkung 5, Seite 2)
Anhang: Texte der 3. Sinfonie[40]
1. Satz
Geliebter, auserwählter Sohn,
Teile mit der Mutter deine Wunden;
Hab ich dich doch, geliebter Sohn,
bewahrt in meinem Herzen
Und dir stets treu gedient.
Sprich mit deiner Mutter,
Um ihr Freude zu bereiten,
Auch wenn du von ihr gehst,
Du meine liebste Zuversicht.
2. Satz
Nein, Mutter, weine nicht,
Unbefleckte Himmelskönigin,
Steh mir allzeit bei.
„Ave Maria“
3. Satz
Wohin ist er gegangen,
Mein geliebter Sohn?
Hat ihn wohl im Aufstand
Der böse Feind erschlagen.
Ach, ihr schlechten Menschen,
In Gottes heiligem Namen:
Warum habt ihr getötet
Meinen Sohn?
Niemals wieder
Wird er mich stützen,
Auch wenn vor Weinen mir
Die alten Augen übergehn.
Würden meine bittren Tränen
Auch eine zweite Oder schaffen,
Könnten sie doch meinen Sohn
Nicht erwecken.
Er liegt in seinem Grab,
Und ich weiß nicht wo,
Obwohl ich die Leute
Überall ausfrage.
Vielleicht liegt das arme Kind
Irgendwo im Graben,
Und hätte doch liegen können
In seinem warmen Bett.
Ach, singt für ihn,
Gottes kleine Vögel,
Denn seine Mutter
Kann ihn nicht finden.
Und ihr, Gottes kleine Blumen,
Blüht ringsherum,
Damit mein Sohn
Ruhig schlafen kann.
[40] Aus dem Programmheft Karlsruhe 2014 (siehe Anmerkung 5, Seite 16 f.). Übersetzer*in unbekannt. Sollten wir Rechte des Übersetzers/der Übersetzerin verletzt haben, bitten wir um Nachricht.
(Alle Links in den Anmerkungen wurden zuletzt im Februar 2021 aufgerufen.)
Literatur:
Adrian Thomas: Górecki (Oxford Studies of Composers), Oxford 1997
Luke B. Howard: A Reluctant Requiem: The History and Reception of Henryk M. Górecki’s Symphony No. 3 in Britain and the United States, Dissertation The University of Michigan, 1997
Adrian Thomas: Górecki, Henryk Mikołai, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume, herausgegeben von Ludwig Fischer, Personenteil 7, Kassel und andere, 2. Ausgabe 2002, Spalte 1357-1360
Luke B. Howard: Laying the Foundation. The Reception of Górecki’s Third Symphony 1977-1992, in: Polish Music Journal, Band 6, Nr. 2 (Henryk Mikołaj Górecki), Sommer, Los Angeles 2003 (ursprünglich Vortrag am 5.10.1997 auf dem Symposium „Górecki Autumn“ der University of Southern California, Los Angeles).
Online:
Biografie und Werkverzeichnis auf: Polish Music Center, USC University of Southern California, Los Angeles, https://polishmusic.usc.edu/research/composers/henryk-mikolaj-gorecki/ (2018)
Luke B. Howard: Laying the Foundation. The Reception of Górecki’s Third Symphony 1977-1992 (2003, siehe Literatur), auf: Polish Music Center, USC University of Southern California, Los Angeles, https://polishmusic.usc.edu/research/publications/polish-music-journal/vol6no2/gorecki-third-symphony/#[1]
Tobias Ruderer / Hartmut Welscher: Ein Charthit zerfällt zu Staub. Colin Stetson macht die dritte Sinfonie zum Werk des Einsiedlers, der Górecki war (13.4.2016), auf: VAN. Webmagazin für klassische Musik, https://van.atavist.com/gorecki-stetson
Anonym: Verstörte Kaste. Ein Nobody der Klassikbranche stürmt mit einer Sinfonie die britischen Pop-Charts (Der Spiegel 10/1993 vom 8.3.1993), https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682237.html
Elisabeth Richter: Wundervolle Mischung. Ein Nachruf auf den polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki (12.11.2010), auf: Deutschlandfunk Kultur, https://www.deutschlandfunkkultur.de/wundervolle-mischung.1013.de.html?dram:article_id=171149
(alle Links wurden zuletzt im Februar 2021 aufgerufen)