Henryk Górecki: Sinfonie der Klagelieder
Den Komponisten selbst stilisierten die Printmedien zum „Mythos Górecki“, einen zuvor angeblich völlig unbekannten und obskuren polnischen Komponisten, einen „Nobody der Klassikbranche“, der auf einmal die britischen Pop-Charts „gestürmt“ habe (Der Spiegel). Howard zählte buchstäblich Hunderte zwischen 1993 und 1996 erschienene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel mit diesem Tenor.[33] Noch 1993 und in den folgenden 26 Jahren verwendeten weitere 27 Spielfilme und Fernsehserien die Sinfonie als Soundtrack – von dem Filmdrama „Fearless - Jenseits der Angst“ (1993) mit Jeff Bridges über die Künstlerbiografie „Basquiat“ (1996) von Julian Schnabel, die US-amerikanische Mafia-TV-Serie „Die Sopranos“ (1999 ff.), den Dokumentarfilm „Chernobyl Heart“ (2003) bis zum Action-Film „Suicide Squad“ (2016) und das neueste deutsch-amerikanische Nazi-Kriegsdrama „Ein verborgenes Leben“ (2019) mit dem deutschen Schauspieler August Diehl.[34] Górecki selbst sollen die Plattenverkäufe und vermutlich auch die Rechte an den Soundtracks zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen haben.[35]
Im Bereich der klassischen Musik hat Góreckis 3. Sinfonie seit 1993 im Konzertbetrieb einen angesehen Platz eingenommen. In deutschen Konzertsälen, so scheint es zumindest, wird sie meist bei Festivals, in thematischen Konzertreihen oder bei solchen Konzerten aufgeführt, die unter einem bestimmten Motto stehen. Der Erfolg Anfang der 1990er-Jahre war, so der Musikjournalist Jürgen Ostmann (*1962), sicher auch auf die politischen Ereignisse des vorangegangenen Jahrzehnts zurückzuführen, durch die Polen in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit geraten war: „durch die Wahl des (mit Górecki persönlich befreundeten) Karol Wojtyla zum Papst, den Aufstieg der Gewerkschaft ‚Solidarność‘ und die von Polen ausgehende Wende im ehemaligen Ostblock […] Einer Öffentlichkeit, die Góreckis ‚Sinfonie der Klagelieder‘ offenbar mit der langen Leidensgeschichte der Polen symbolisch in Verbindung brachte.“ Gleichzeitig konnten die Musikliebhaber die anfänglich so geschmähte „Neue Einfachheit“ jetzt auch mit dem parallelen Phänomen der US-amerikanischen „Minimal Music“ und dem „spirituellen Minimalismus“ in Verbindung bringen, wie ihn Arvo Pärt und der Engländer John Tavener (1944-2013) geprägt hatten.[36]
Noch 2018 rekurrierte der polnische Dirigent Krzysztof Urbański (*1982), seit 2015 Erster Gastdirigent des in Hamburg beheimateten NDR Elbphilharmonie Orchesters, bei der Aufführung der 3. Sinfonie im Rahmen der Konzertreihe „My Polish Heart“ in der Elbphilharmonie Hamburg auf die gefühlvollen Werte des Stücks und bezeichnete es in seiner Einführung als „a symphony without music inside. Górecki minimized the musical aspect in the symphony to absolute minimum. And this way he managed to focus on the emotional aspect of the piece. And most importantly on the text.“[37] Eine Aufführung des Konzerthauses Berlin am 24. Mai 2020 unter dem Motto „Nostalgie und Zauber des Klangs“ mit dem Untertitel „Wir sind unsere Gefühle“ unter der Leitung des russischen Dirigenten Andrey Boreyko (*1957) und mit der polnischen Sopranistin Iwona Sobotka (*1981) musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.[38] Ein weiterer Grund für Aufführungen der 3. Sinfonie in diesem Jahrtausend liegt sicher auch darin, dass sich die Texte des 2. und 3. Satzes zu Gedenktagen an die Nazizeit und an den Ersten Weltkrieg in Verbindung bringen lassen.[39]
Axel Feuß, Februar 2021
[33] Howard [1997] 2003 (siehe Literatur und Online), Anmerkung 2
[34] Filmografie zur 3. Sinfonie von Górecki auf der Internet Movie Database (IMDb), https://www.imdb.com/name/nm0330782/?ref_=nv_sr_srsg_0
[35] „Vom Erfolg seines Charthits baute er sich ein Haus in Zakopane am Fuß des Tatra-Gebirges, wo er weiter komponierte (insbesondere drei vom Kronos Quartett in Auftrag gegebene Streichquartette), als Hobby Lehnstühle baute und das er nur selten für Auslandsreisen verließ.“ (Ruderer/Welscher 2016 [siehe Online])
[36] Jürgen Ostmann: Triumph der Einfachheit, im Konzertprogramm „Urbański & Anderszewski“, Elbphilharmonie Hamburg, 17.11.2018 (siehe PDF 3), Seite 11 f.
[37] Live-Video Krzysztof Urbański dirigiert Góreckis Dritte / Elbphilharmonie. NDR Elbphilharmonie-Orchester, Hamburg, 17.11.2018, Sopranstimmen: Barbora Kabátková, Justyna Steczkowska, Grażyna Auguścik, auf: Facebook Live-Videos, https://www.facebook.com/watch/live/?v=495179384322908&ref=watch_permalink, Einführung Minute 5:30
[39] „Vor einhundert Jahren stolperte Europa in den Ersten Weltkrieg, und aus einem forschen Machtspiel wurde millionenfaches Morden. Die Europäischen Kulturtage 2014 wollen in Karlsruhe an diesen folgenschweren Sündenfall des 20. Jahrhunderts erinnern, und diese Konzerte sind ein Teil davon. Sie erinnern einerseits daran, wie rasch aus einer Kulturnation, die für Bach und Beethoven bewundert wird, eine barbarische Mördernation werden kann, aber sie erinnern auch an Komponisten, die zu Kriegsopfern geworden sind.“ (Bernd Feuchtner: Hoffnungen, im Programm zur Aufführung am 23.05.2014 in Karlsruhe, siehe Anmerkung 5, Seite 2)