Studnicki-Gizbert, Władysław

Władysław Studnicki, vor 1933
Władysław Studnicki, vor 1933 (Ilustrowany Kurier Codzienny, vom 21.01.1932)

Seinen politischen Weg begann Studnicki in der sozialistischen Bewegung. 1902 trat er in Lemberg der National-Demokratischen Partei (Stronnictwo Narodowo-Demokratyczne) bei. Aus Protest gegen die antideutsche und prorussische Politik Roman Dmowskis verließ er die „Nationaldemokratie“ wieder wenige Jahre später. Die in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches lebenden Polen seien von einer krankhaften Ablehnung alles „Preußischen“ befallen, begründete Studnicki 1907 in einem Artikel mit dem Titel Chorzy na Prusków (Preußenkrankheit) seinen Schritt. Die „Preußenkrankheit“, von „politischen Scharlatanen“ aus den eigenen Reihen aufgebracht und gepflegt, hindere die Polen daran, die positiven Errungenschaften der preußischen Herrschaft wahrzunehmen und zu akzeptieren. Studnickis Kritik blieb ohne Wirkung. Die preußisch-deutsche Politik des Druckes und der Restriktionen hatte in den östlichen Provinzen längst befördert, was sie zu verhindern versuchte: die Herausbildung einer modernen, institutionell breit aufgestellten polnischen Gesellschaft, die sich entschieden von allem „Deutschen“ abgrenzte und zum Kern des 1918 wiedererrichteten polnischen Staates werden sollte.

In den Jahren unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg schloss sich Studnicki der austro-polnischen Bewegung unter Piłsudski an und forderte die Bildung eines mit Österreich und Ungarn in einer „Dreier-Union“ verbundenen polnischen Staates, dessen territoriale Ausdehnung vor allem zulasten Russlands erfolgen sollte. Im Verlaufe des 1. Weltkrieges wechselte Studnicki erneut die Seiten. Im Mai 1916 unterbreitete er dem Chef der deutschen Okkupationsverwaltung Hans von Beseler den Plan für die Bildung eines unabhängigen polnischen Staates, dessen Grenzen im Osten entlang der Düna und Beresina verlaufen, die Westgrenze aber der des Königreich Polens von 1815 entsprechen sollte. Infolgedessen wären die Regionen Posen, Bromberg und Oberschlesien weiterhin bei Preußen geblieben. Im Dezember 1916 wurde Studnicki dank der Förderung durch von Beseler in den 25-köpfigen „Provisorischen Staatsrat“ in Warschau berufen. 

Studnicki war ein „Konzeptualist“, kein praktischer Politiker, so der polnische Historiker Marek Kornat. Seine Vision war die eines „starken Polen zwischen Deutschland und Russland“, das sich an Deutschland orientieren und entschieden von Russland abgrenzen sollte. Das aber war – wie der Osteuropa-Historiker Gotthold Rhode einräumte – eine absolute Minderheitsposition, für die es in Polen, zumal im früheren preußischen Teilungsgebiet keine Anhänger:innen gab.

In der Zweiten Polnischen Republik arbeitete Studnicki zunächst in Warschau als Berater für das Handels- und Industrieministerium sowie das Außenministerium, danach als Dozent in Wilna. Nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffsabkommen vom 26. Januar 1934 plädierte Studnicki erneut für ein enges Bündnis zwischen Polen und dem Deutschen Reich. In seinem 1936 auch in Deutschland unter dem Titel „Polen im politischen System Europas“ veröffentlichten Buch System polityczny Europy a Polska (1935) forderte er u.a. die Abtretung der deutschen Teile Böhmens an das Deutsche Reich, die Rückführung des tschechischen Teils von Teschen (Cieszyn/Těšín) an Polen, die Angliederung der Slowakei und des sowjetisch kontrollierten Karpatengebietes an Ungarn sowie die Schaffung einer direkten polnisch-ungarischen Grenze. 

Was sich wie eine frühe Vorlage für das Münchner Abkommen vom September 1938 liest, spiegelte die klassischen Denkmuster aus der Zeit des 1. Weltkrieges wider, in denen viele europäische Politiker:innen, nicht nur Studnicki. dachten. Hitlers außenpolitisches Ziel aber war nicht die Revision des „Versailler Systems“, sondern die radikale Neuordnung des europäischen Ostens im Sinne der NS-Rassenideologie. Das konnten oder wollten viele Zeitgenoss:innen, auch Studnicki, nicht wahrhaben. 

Im Jahr 1935 erschien Studnickis Buch Sprawa polsko-żydowska (Die polnische-jüdische Angelegenheit), in dem er – wie die Historikerin Joanna Michlic aufgezeigt hat – die Juden als „Parasiten auf dem gesunden polnischen Baum“ bezeichnete, die Schaffung eines polnischen Protektorats in Palästina und die schrittweise Ausweisung der polnischen Juden (pro Jahr 100.000) forderte.

Im September 1936 nahm Studnicki (auf Einladung von Rudolf Heß) am „Reichsparteitag“ der NSDAP in Nürnberg teil, traf mit Adolf Hitler zusammen und führte ein langes Gespräch mit Außenminister von Ribbentrop.

Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht im März 1939 kritisierte Studnicki das deutsche Vorgehen, forderte jedoch zugleich, dass die polnische Regierung, anstatt Hitlers Forderungen abzulehnen und auf England und Frankreich zu setzen, sich an der Seite des Deutschen Reiches gegen Sowjetrussland stellen solle, andernfalls drohe die Gefahr, dass Polen in den Machtbereich Moskaus gelangen werde. 

Im Blick auf diese „Vorhersage“ wird Studnicki seit einigen Jahren in Polen von rechtslastigen Politiker:innen und Publizist:innen in die „Rolle eines vermeintlichen Retters des Vaterlandes“ geschoben, so der Historiker Marek Kornat. „Sie versuchen, einen historischen Revisionismus zu kreieren und ihn zum Instrument für eine Neubewertung der polnischen Gesellschaft in der Vergangenheit zu machen. Das aber ist ein Weg ins Nirgendwo.“ 

Studnicki habe nicht wahrhaben wollen, dass Hitler nicht für das „Europa“ in den Krieg ziehen wollte, das Studnicki vorschwebte, sondern um „Lebensraum“ im Osten zu erobern. In diesem „Europa“ Hitlers aber sollte es für Polen keinen Platz mehr geben, so Marek Kornat. „Studnicki verstand das Wesen des deutschen Totalitarismus nicht. Hitlers Deutschland schien ihm dasselbe zu sein wie das Wilhelminische Reich.“ 

Die Rolle, die Studnicki schließlich während des 2. Weltkrieges zu spielen versuchte, hatte denn auch tragische Züge. In vollkommener Verkennung der weltanschaulichen und politischen Ziele des NS-Regimes versuchte Studnicki, Hitler zu einer Veränderung seiner Politik im besetzten Polen zu bewegen. Weder die Inhaftierung in Deutschland noch die Internierungen im berüchtigten „Pawiak“-Gefängnis in Warschau konnten Studnicki von seinem Vorhaben abbringen, zu dem auch das aberwitzige Angebot an Hitler gehörte, polnische Kampfeinheiten aufzustellen, die an der Seite des Deutschen Reiches gegen Sowjetrussland kämpfen würden. Dass Studnicki schließlich den Warschauer Aufstand als grundlegenden Fehler bezeichnete, kann nicht verwundern.

Fazit: Im kommunistischen Polen galt Studnicki als „Kollaborateur“; seine Bücher waren verboten. Das hat das Interesse an ihm (wie an anderen Akteur:innen der Zwischenkriegszeit) in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos befördert, vor allem in rechtsnationalen Kreisen in Polen. Studnicki zu einem vergessenen Wegbereiter der deutsch-polnischen Annäherung zu stilisieren, würde seiner tatsächlichen Bedeutung und der fragwürdigen Rolle, die er in Polen vor und nach 1939 gespielt hat, nicht gerecht werden. 

 

Bernd Krebs, Mai 2024

 

Literatur

Grzegorz Kucharczyk (Hrsg.): Pierwsza niemiecka okupacja. Królestwo i kresy wschodnie pod okupacją mocarstw centralnych 1914-1918, Warszawa 2019.

Mikołaj Kunicki: Unwanted Collaborators. Leon Kozłowski, Władysław Studnicki and the Problem of Collaboration among Polish Conservative Politicians during World War II, in: European Review of History - Revue européenne d’histoire 8 (2001) 2, S. 203–220.

Joanna Beata Michlic: Poland’s Threatening Others: The Image of the Jew from 1880 to the Present, Lincoln 2006.

Gotthold Rhode: Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 1980.

Wojciech Szczęsny: Interview mit Professor Marek Kornat: Rewizjonizm historyczny to droga donikąd, in: Portal i.PL. Nasza Historia, 25.11.2020, URL: https://i.pl/profesor-marek-kornat-rewizjonizm-historyczny-to-droga-donikad/ar/c1-15311693 (zuletzt abgerufen: 3.6.2024).

Hans-Erich Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016.

Marian Zgórniak: Nieudana misja Władysława Gisberta-Studnickiego w Berlinie w początku 1940 roku Studnicki, in: Państwo i Społeczeństwo III (2003) 2, S.103–122.

Piotr Zychowicz: Germanofil. Władysław Studnicki – Polak, który chciał sojuszu z III Rzeszą, Poznań 2020.