Studnicki-Gizbert, Władysław
Seinen politischen Weg begann Studnicki in der sozialistischen Bewegung. 1902 trat er in Lemberg der National-Demokratischen Partei (Stronnictwo Narodowo-Demokratyczne) bei. Aus Protest gegen die antideutsche und prorussische Politik Roman Dmowskis verließ er die „Nationaldemokratie“ wieder wenige Jahre später. Die in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches lebenden Polen seien von einer krankhaften Ablehnung alles „Preußischen“ befallen, begründete Studnicki 1907 in einem Artikel mit dem Titel Chorzy na Prusków (Preußenkrankheit) seinen Schritt. Die „Preußenkrankheit“, von „politischen Scharlatanen“ aus den eigenen Reihen aufgebracht und gepflegt, hindere die Polen daran, die positiven Errungenschaften der preußischen Herrschaft wahrzunehmen und zu akzeptieren. Studnickis Kritik blieb ohne Wirkung. Die preußisch-deutsche Politik des Druckes und der Restriktionen hatte in den östlichen Provinzen längst befördert, was sie zu verhindern versuchte: die Herausbildung einer modernen, institutionell breit aufgestellten polnischen Gesellschaft, die sich entschieden von allem „Deutschen“ abgrenzte und zum Kern des 1918 wiedererrichteten polnischen Staates werden sollte.
In den Jahren unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg schloss sich Studnicki der austro-polnischen Bewegung unter Piłsudski an und forderte die Bildung eines mit Österreich und Ungarn in einer „Dreier-Union“ verbundenen polnischen Staates, dessen territoriale Ausdehnung vor allem zulasten Russlands erfolgen sollte. Im Verlaufe des 1. Weltkrieges wechselte Studnicki erneut die Seiten. Im Mai 1916 unterbreitete er dem Chef der deutschen Okkupationsverwaltung Hans von Beseler den Plan für die Bildung eines unabhängigen polnischen Staates, dessen Grenzen im Osten entlang der Düna und Beresina verlaufen, die Westgrenze aber der des Königreich Polens von 1815 entsprechen sollte. Infolgedessen wären die Regionen Posen, Bromberg und Oberschlesien weiterhin bei Preußen geblieben. Im Dezember 1916 wurde Studnicki dank der Förderung durch von Beseler in den 25-köpfigen „Provisorischen Staatsrat“ in Warschau berufen.
Studnicki war ein „Konzeptualist“, kein praktischer Politiker, so der polnische Historiker Marek Kornat. Seine Vision war die eines „starken Polen zwischen Deutschland und Russland“, das sich an Deutschland orientieren und entschieden von Russland abgrenzen sollte. Das aber war – wie der Osteuropa-Historiker Gotthold Rhode einräumte – eine absolute Minderheitsposition, für die es in Polen, zumal im früheren preußischen Teilungsgebiet keine Anhänger:innen gab.
In der Zweiten Polnischen Republik arbeitete Studnicki zunächst in Warschau als Berater für das Handels- und Industrieministerium sowie das Außenministerium, danach als Dozent in Wilna. Nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffsabkommen vom 26. Januar 1934 plädierte Studnicki erneut für ein enges Bündnis zwischen Polen und dem Deutschen Reich. In seinem 1936 auch in Deutschland unter dem Titel „Polen im politischen System Europas“ veröffentlichten Buch System polityczny Europy a Polska (1935) forderte er u.a. die Abtretung der deutschen Teile Böhmens an das Deutsche Reich, die Rückführung des tschechischen Teils von Teschen (Cieszyn/Těšín) an Polen, die Angliederung der Slowakei und des sowjetisch kontrollierten Karpatengebietes an Ungarn sowie die Schaffung einer direkten polnisch-ungarischen Grenze.
Was sich wie eine frühe Vorlage für das Münchner Abkommen vom September 1938 liest, spiegelte die klassischen Denkmuster aus der Zeit des 1. Weltkrieges wider, in denen viele europäische Politiker:innen, nicht nur Studnicki. dachten. Hitlers außenpolitisches Ziel aber war nicht die Revision des „Versailler Systems“, sondern die radikale Neuordnung des europäischen Ostens im Sinne der NS-Rassenideologie. Das konnten oder wollten viele Zeitgenoss:innen, auch Studnicki, nicht wahrhaben.