Tomasz Kurianowicz
Geboren wurden Tomasz Kurianowicz und seine Zwillingsschwester Katerina 1983 in Bremerhaven, ihre Eltern stammen jedoch aus Olsztyn (zu Deutsch „Allenstein“), der Hauptstadt der Woiwodschaft Ermland-Masuren. In den späten 1970ern und frühen 1980ern war Polen im Vergleich zu heute ein armes Land. Die sozialistische Wirtschaft funktionierte bei Weitem nicht so segensreich, wie die Regierung immer wieder beteuerte. Der künftige Vater von Tomasz Kurianowicz studierte in Danzig Bratsche. In einem internationalen Orchestermagazin studierte er Stellenanzeigen: Italien, Frankreich, Deutschland – all diese Länder erschienen reicher an Perspektiven als die polnische Heimat. Und so bewarb sich Janusz Kurianowicz und erhielt eine Zusage aus Bremerhaven, damals eine prosperierende Stadt mit glänzenden Aussichten. Eine Orchesterstelle dort, abgesichert als städtischer Angestellter – das erschien Janusz Kurianowicz verlockend genug, um 1981 seiner Heimat den Rücken zu kehren. Allerdings war eine solche Ausreise mit Schwierigkeiten verbunden. Zum einen musste Janusz Kurianowicz ein weißes Blatt Papier blanko unterschreiben, um einen Ausreisepass zu erhalten. Darauf konnten die Behörden später jeden beliebigen Text schreiben und bei Bedarf gegen den Auswanderer verwenden. Zum anderen verpflichtete sich Janusz Kurianowicz dazu, etwa ein Viertel seines künftigen Bruttogehalts an den polnischen Staat zu überweisen, – eine Art von Devisenhandel, mit der sich Polen in diesen Zeiten über Wasser zu halten versuchte. Janusz Kurianowicz zog allein nach Bremerhaven. Seine ebenfalls noch sehr junge Frau, kam erst anderthalb Jahre später mit dem kleinen Sohn Piotr nachgereist, dem neun Jahre älteren Bruder von Tomasz Kurianowicz.
Zu Hause wurde bei den Kurianowiczs Polnisch gesprochen. Der kleine Tomasz lernte erst im Kindergarten die Sprache seines Geburtslandes, das aber leicht und wie nebenbei. Heute erinnert er sich an Bremerhaven als eine migrantisch geprägte Stadt. „Ich fiel als Kind polnischer Eltern nicht besonders auf“, sagt er. „Es gab in unserem Umfeld viele Spätaussiedler aus Polen, die nach einer wirtschaftlichen Perspektive suchten. Meiner Erinnerung nach, sprachen die ausschließlich Deutsch und versuchten, nicht aufzufallen, da sie Angst hatten, die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zu verlieren.“ Die Eltern von Tomasz Kurianowicz waren da anders. Sie sprachen viel Polnisch und identifizierten sich stark als Polen, auch wenn Janusz Kurianowicz 1985 die Zahlungen an den polnischen Staat einstellte und damit das Rückreiserecht verwirkte. Dennoch sah er sich selbst als Pole. Sein Vater hatte in der roten Armee gegen die Nationalsozialisten gekämpft und war mit ihr in Berlin einmarschiert. Der Vater seiner Frau hatte ebenfalls gegen die Nazis gekämpft, allerdings auf Seiten der Alliierten. Deswegen wurde er später von der Milicja Obywatelska (zu Deutsch „Bürgermiliz“) – der offiziellen Polizei in der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Volksrepublik Polen festgenommen und zu einem Gulag-Aufenthalt in der damaligen Sowjetunion verurteilt. Diese unterschiedlichen familiären Hintergründe ergaben in der Familie viel Gesprächsstoff. Dazu gehörte auch die Frage, ob sich Polen nicht besser stärker am Westen als an Russland ausgerichtet hätte. Der kleine Tomasz zumindest wurde auf diese Weise schon früh mit politischen Themen konfrontiert, aber auch mit der Liebe zu Musik und Kunst, die beide Eltern teilten. Als phantasiebegabtes Kind liebte Tomasz Geschichten und las gerne und viel. Als Jugendlicher schrieb er kleine Theaterstücke, die er mit Freund*innen im Landhaus des Vaters einer Freundin probte. Nach dem Abitur war ihm klar, dass er etwas mit „Schreiben“ und den „schönen Künsten“ machen wollte und studierte Literatur- sowie Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (samt einem Gastsemester in Zürich). Während des Studiums liebäugelte Tomasz Kurianowicz zunehmend mit der Idee, Kulturjournalist zu werden, und veröffentlichte in dieser Zeit bereits Artikel in der Berliner Zeitung, der Süddeutschen oder der Neuen Züricher Zeitung. Dabei ließ er bereits seine Bandbreite erahnen: So interviewte er den Popmusiker Moby, beleuchtete kritisch das RTL-Format „Teenager außer Kontrolle“ und fragte anlässlich des dramatischen Absturzes der polnischen Präsidentenmaschine „Polen, was wird mit dir sein?“. Den Magister in der Tasche hospitierte Tomasz Kurianowicz Anfang 2011 drei Monate bei der F.A.Z. und arbeitete anschließend ein Jahr als freier Journalist vor allem für diese große Frankfurter Tageszeitung.
Bis heute ist der von Grund auf neugierige Tomasz Kurianowicz stets bestrebt, seinen Horizont zu erweitern. So blieb er nach dem Studium der Wissenschaft verbunden, begann eine Doktorarbeit zur Literatur aus der Goethe-Zeit und wurde Mitglied im PhD-Netzwerk „Wissen der Literatur“ an der Humboldt Universität zu Berlin unter der Leitung von Prof. Joseph Vogl. Als sich die Gelegenheit zu einem Austauschstipendium in den USA bot, griff Kurianowicz kurzentschlossen zu. Von April 2012 bis September 2013 lebte er in Ann Arbor (Michigan) und erlebte die zweite Obama-Wahl in den USA mit. Gleich im Anschluss bekam er eine feste Doktorandenstelle im German Departement der Columbia University und lebte drei Jahre in der 112. Straße in Manhattan. Die USA erinnert er als zutiefst widersprüchliches Land. „Ich sehe da gewisse Parallelen zu Polen“, sagt er. „Auch dort sind die Extreme zwischen Liberalen und Konservativen stärker ausgeprägt. Und auch in Polen spielt Religion in vielen Regionen eine große Rolle. Im Vergleich zu den USA ist allerdings der katholische Glaube dominant.“ Erschrocken war Kurianowicz über die Armut, in der er nicht wenige US-Bürger*innen sah. Das Freiheitsversprechen der Vereinigten Staaten verbindet sich in seinen Augen mit sozialen Härten für große Teile der Bevölkerung, auch mit Verwahrlosung und einer gespaltenen Gesellschaft. Ende 2016 kehrte er nach Deutschland zurück, arbeitete wieder als freier Journalist und verfasste unter anderem Konzert- und Opernbesprechungen für den Tagesspiegel, einen vielbeachteten Artikel über New Yorker Kunsthandel für die WELT und eine Lobeshymne auf die österreichische Band „Bilderbuch“ für die ZEIT. Obendrein produzierte er Fernsehbeiträge für rbb-Kultur und Radiobeiträge für radioeins (rbb), Radio Bremen Zwei und Deutschlandfunk Kultur. Von Oktober 2017 bis Juni 2018 arbeitete Tomasz Kurianowicz vertretungsweise als Redakteur im Kulturressort von ZEIT ONLINE. Neben Konzert- und Buchkritiken sowie allgemein kulturfeuilletonistischen Themen, fokussiert sich Kurianowicz bis heute immer wieder auf Polen. Mal schreibt er über das internationale Filmfestival in Gdansk, mal analysiert er die Bestrebungen des polnischen Kulturministers gegen die liberale Theaterszene seines Landes. Er schreibt über den polnischen Autor Szczepan Twardoch, über den Kulturkampf in Polen oder führt ein Interview mit dem Oppositionspolitiker Radosław Sikorski. Dabei ist es Tomasz Kurianowicz sehr wichtig, der deutschen Leserschaft ein differenziertes Bild des Landes nahezubringen, dessen Staatsbürgerschaft er innehat. Er sagt: „Es stört mich, dass viele Deutsche bis heute die Polen vor allem für rückständig und reaktionär halten. Dabei übersieht man immer wieder die vielen aufgeschlossenen, liberalen Menschen in Polen.“ Kurianowicz bemängelt auch die Ignoranz gegenüber der komplexen polnischen Geschichte. Er selbst besucht das Land etwa alle zwei Monate. Er hat Freunde in Warschau und Krakau, fährt aber auch oft in die Nähe von Olsztyn, wo seine Eltern ein Sommerhaus haben. Er liebt die Herzlichkeit vieler Polen, die Gastfreundschaft und die positiv gelebte Tradition. Auch eine gewisse Melancholie schätzt er an den Menschen in Polen und erklärt sie sich mit den vielen Missgeschicken der polnischen Geschichte und damit, dass die Pol*innen lange Zeit keinen eigenen Staat hatten. „Aus Sicht der Polen wirken die Deutschen manchmal etwas hartherzig“, sagt Kurianowicz. „Nach dem Motto: Effizient sind sie ja, aber das geht wohl etwas auf Kosten der Wärme und Offenheit.“ An Deutschland wiederum schätzt Kurianowicz die breite bildungsbürgerliche Mittelschicht, das tendenziell intellektuelle Klima und die größere Spaltung von Religion und Staat.
Das Jahr 2020 war für den Enddreißiger bisher besonders erfolgreich. Zum einen konnte er den Doktortitel erwerben. Zum anderen arbeitet er seit Juli als Leiter der Rubrik „Gesellschaft und Debatte“ in fester Anstellung für die Berliner Zeitung. Sein Arbeitspensum ist hoch. Er betreut freie Autor*innen, redigiert Artikel, plant in täglichen Konferenzen einen Teil des Inhalts der Tageszeitung. Manchmal verfasst er obendrein drei oder vier eigene Artikel in der Woche. Dazu muss er schnell auf gesellschaftliche Debatten reagieren, sich weiterbilden und sich zielstrebig in den sozialen Medien bewegen. Für Polen bleibt dennoch weiterhin genug Zeit, wie auch aktuellere Artikel des Journalisten verraten. Über die Migrationsgeschichte seiner Eltern und seine eigene Existenz als Deutschpole verfasste er im Oktober ein Essay unter dem Titel „Deutschland ist … leider geil“. Bis heute hat Tomasz Kurianowicz nur die polnische Staatsbürgerschaft. Zunächst hatten seine Eltern das so entschieden. Als Jugendlicher wollte er sie dann nicht aufgeben. Jahre später, als Polen der EU beitrat und die EU-Mitgliedschaft eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich machte, änderte sich seine Haltung und er wollte auch die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Doch er kam erst nach seinem Doktorandenstudium in New York dazu. Was er nicht wissen konnte: Sein langer Auslandsaufenthalt hatte ihm das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft verwirkt. „Beim Bürgeramt sagte man mir, für einen erfolgreichen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft müsse man vier Jahre lang durchgehend in Deutschland Steuern zahlen", sagt der reisefreudige Journalist. „Wegen meines USA-Aufenthalts war das nicht der Fall. Also ließ ich es bleiben.“
Anselm Neft, November 2020
Die Homepage des Journalisten Tomasz Kurianowicz: www.kurianowicz.com