Sigrid Nikutta – die Frau fürs Unmögliche

Sigrid Nikutta. Autor: Stefanie Loos / re:publica 19.
Sigrid Nikutta auf der „re:publica 19”, 07.05.2019

Lediglich die ersten acht Wochen ihres Lebens verbrachte die am 1. April 1969 geborene Sigrid Nikutta in Polen, bevor ihre Eltern – ein deutsches Aussiedlerpaar aus Masuren – mit ihrem Baby in die ostwestfälische Stadt Enger zogen. Dennoch fühlten sich die Nikuttas Polen stets verbunden und kehrten nicht nur in Gedanken gerne dorthin zurück. „Ich habe viel für Polen übrig. Ich bin fasziniert von diesem Land, den Leuten und meiner Herkunft“[1], gestand Sigrid Nikutta in einem Interview. 

Auch als Erwachsene hatte die Managerin oft die Gelegenheit, in ihr Geburtsland zurückzukehren; nicht nur im Urlaub, sondern auch dienstlich, nachdem sie 2009 den Posten als Vorstand Produktion bei DB Schenker Rail Polska in Zabrze übernommen hatte. Sie erinnert sich noch an die unzähligen Befürchtungen, die ihr Umzug nach Polen bei ihren Bekannten auslöste. Einige warnten sie sogar, eine deutsche Frau könne in Polen leicht auf offener Straße angegriffen werden. Doch für Sigrid Nikutta ist Weltoffenheit nie ein Fremdwort gewesen – dazu haben zweifelsohne nicht nur ihre vorherigen Erfahrungen mit Polen und den Pol:innen beigetragen, sondern auch ihr Studium der Psychologie und Pädagogik, das sie an der Universität Bielefeld absolvierte. Eine Karriere in der Transportbranche hatte sie nämlich – und das über viele Jahre hinweg – gar nicht angestrebt. Sie sah ihre Chance, die Welt ein Stück besser zu machen, in der Arbeit mit jugendlichen Straftäter:innen. Doch bereits beim ersten Praktikum in einer JVA wurde ihr klar, dass sie den Kampf gegen soziale Probleme alleine nicht gewinnen kann.

Bereits während ihres Studiums trat Sigrid Nikutta eine Stelle in einem mittelständischen Bielefelder Unternehmen an. 1996 wechselte sie bewusst in eins der neuen Bundesländer – an einen DB-Standort in Sachsen. In Dresden bekleidete sie mehrere verschiedene Führungspositionen im Bildungsbereich. 2001 wurde sie Personalleiterin bei DB Cargo in Duisburg, doch schon bald darauf wechselte sie als Produktionsleiterin und Sprecherin der Geschäftsführung des Transportbereichs Ganzzugverkehr nach Mainz. Der nächste Karriereschritt führte sie in das bereits erwähnte Zabrze. Diese häufigen Stellen- und Unternehmenswechsel sowie die damit verbundenen Umzüge waren keineswegs zufällig. „Solche Entscheidungen zogen sich durch meinen Berufsweg. Nämlich nicht zu fragen: Was ist der leichteste nächste Schritt? Sondern: Was bringt mich wirklich weiter? Was ist die herausforderndste Tätigkeit?“[2] , erklärte die Managerin. 

Einen Durchbruch in ihrer Karriere erzielte Sigrid Nikutta, als sie 2010 zur Vorstandsvorsitzenden der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gewählt wurde – des Unternehmens, das für den gesamten öffentlichen Nahverkehr in der deutschen Hauptstadt verantwortlich zeichnet. Dafür musste sie gegen 130 andere Kandidat:innen antreten, doch sie konnte sich durchsetzen. Somit stand zum ersten Mal eine Frau an der Spitze des Unternehmens, das zum damaligen Zeitpunkt 13.000 Mitarbeiter:innen beschäftigte und jährlich ca. 920 Mio. Personen beförderte. Die Nachricht löste nicht nur Erstaunen in der Branche aus, sondern auch ein breites mediales Echo. Dies war nicht das erste Mal, dass Sigrid Nikutta auf Frauenklischees stieß – oft genug war sie bei Vorstandssitzungen für die Assistentin eines der (männlichen) Vorstandsmitglieder gehalten worden. Doch die Reaktionen auf ihre Wahl zur Vorstandsvorsitzenden der BVG überschritten jegliche Grenzen. „In der Berichterstattung ging es eigentlich nur um mein Geschlecht. (…) Niemand hat über meine Qualifikation gesprochen. Ich erinnere mich noch an die Schlagzeile, mit der durchgestochen wurde, dass ich den Job übernehme: ‚Eine 42-jährige Psychologin aus Polen mit drei Kindern soll die BVG leiten’. Da wurden wirklich alle Klischees zusammengerührt“[3], kommentierte die Managerin. 

 

[1]   Philipps, C./Pfeiffer, B.: Sigrid Nikutta ist fasziniert von Land und Leuten, in: moz.de, 05.03.2011, URL: https://www.moz.de/sigrid-nikutta-ist-fasziniert-von-land-und-leuten-49423444.html (zuletzt aufgerufen am 01.07.2021) [von der Übersetzerin rückübersetzt].

[2]   Erk, D.: Ich bin die Herrin der Güterzüge, in: zeit.de, 02.03.2021, URL: https://www.zeit.de/arbeit/2021-03/sigrid-nikutta-deutsche-bahn-vorstand-arbeit-podcast (zuletzt aufgerufen am 01.07.2021).

[3]   Gronwald, S.: „Da wurden wirklich alle Klischees zusammengerührt”, in: stern.de, 25.11.2020, URL: https://www.stern.de/politik/quotenfrauen/sigrid-nikutta---da-wurden-wirklich-alle-klischees-zusammengeruehrt---9493740.html (zuletzt aufgerufen am 01.07.2021).

Die Resonanz in der Branche und in den Medien brachte Sigrid Nikutta dazu, ihre Meinung zur gesetzlichen Frauenquote zu ändern. „Die medialen Reaktionen haben mir gezeigt, wie weit wir davon entfernt sind, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dass eine Frau eine solche Position übernimmt“[4], erklärte sie in einem Interview für den „stern“.

Das mediale Interesse an der „Frau in Führungsposition“ ebbte lange nicht ab. Die Presse kommentierte ausführlich u.a. die Geburt ihrer beiden jüngsten Kinder während ihrer Amtszeit bei den BVG, sowie ihre schnelle Rückkehr zur Arbeit. Für nicht weniger Aufruhr sorgte Sigrid Nikutta, als sie ihre Babys zu den Vorstandssitzungen mitbrachte und sie während der stundenlangen Diskussionen stillte. Weitere Kontroversen entfachte die Tatsache, dass ihr Mann seinen Job aufgab, um sich stattdessen um den Haushalt zu kümmern. 

Mit Sigrid Nikutta als Managerin konnten die BVG zum ersten Mal seit Jahrzehnten Gewinne verzeichnen. Die Zahl der jährlich beförderten Personen stieg auf 1,1 Mrd. Nicht alle Bereiche konnten optimiert werden – die Modernisierung der veralteten Bus- und U-Bahn-Flotte ging nur schleppend voran, was zu einem Anstieg der Fahrtausfälle führte. Dennoch wird Nikuttas Bilanz als Vorstandsvorsitzende aus heutiger Sicht positiv betrachtet. Als Erfolgsgeschichte entpuppte sich die ironische, selbstkritische Image-Kampagne „Weil wir dich lieben“. Durch bewussten, gezielten Spott gegenüber den bekannten Mängeln der BVG (wie die unfreundlichen Fahrer:innen oder die ewigen Busverspätungen) konnten ein einzigartiges Firmenimage und ein hoher Wiedererkennungswert geschaffen werden.

Nach fast 10 Jahren Vorstandsvorsitz in Berlin wurde Sigrid Nikutta im November 2019 in den Vorstand der Deutschen Bahn berufen, wo sie nun für das Ressort Güterverkehr zuständig ist. Zudem fungiert sie als Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG. Somit wurde sie die erste Frau an der Spitze eines deutschen Staatsbahnunternehmens in der 185-jährigen Geschichte der Eisenbahn in Deutschland. Über die Jahre hinweg konnte sich die Managerin als „die Frau fürs Unmögliche“ etablieren. Das wird von ihr auch in ihrer neuen Rolle bei DB Cargo erwartet. Die AG schreibt seit Jahren nur noch rote Zahlen und der Anteil an männlichen Mitarbeitenden liegt bei knapp 90 %. Sigrid Nikutta soll also nicht nur das Unternehmen umstrukturieren, sondern auch den Anteil weiblicher Beschäftigter erhöhen. Letzteres wird zweifellos eine schwierige Herausforderung, doch im Hinblick auf die Haltung und die persönliche Erfahrung der Vorstandsvorsitzenden erscheint sie nicht unmöglich. „Ich möchte zeigen, Kinder und Karriere schließen sich keinesfalls aus. Ich betone aber auch gerne, dass das nicht immer leicht ist. Aber es ist möglich und man kann sich damit das Beste aus beiden Welten ziehen. Vielleicht bin ich auch so robust in meinem Berufsleben, weil ich ein ausgefülltes und glückliches Privatleben habe.“[5]

 

Monika Stefanek, Juli 2021

 

[4]   Ebenda.

[5]   Gronwald, S./Stawski, K.: Bahn-Vorständin Nikutta: „Ich pflege im Berufsleben das Image einer Dampfwalze”, in: stern.de, 23.11.2020, URL: https://www.stern.de/politik/sigrid-nikutta--deutsche-bahn---der-gesamte-vorstand-steht-hinter-der-frauenquote--9500976.html (zuletzt aufgerufen am 01.07.2021).