Raphael Lemkin – Der Schöpfer des Völkermord-Begriffs
Raphael Lemkin kam als Rafał Lemkin am 24. Juni 1900 in einer einfachen polnisch-jüdischen Familie in Bezwodne zur Welt, einem Dorf im Rayon Wolkowysk, unweit von Grodno im heutigen Belarus. Sein Vater Józef Lemkin war Pächter eines Bauernhofs, was im Hinblick auf sein Glaubensbekenntnis seinerzeit ungewöhnlich war. In seiner Autobiographie „Ohne Auftrag“ äußerte sich Lemkin über die Gegend, in der er geboren wurde, wie folgt: „In einem Teil der Welt, der als Litauen oder Weißrussland in die Geschichte einging, hatten Polen, Russen (beziehungsweise Weißrussen) und Juden Jahrhunderte lang gemeinsam gelebt. Obwohl sie einander nicht mochten und sogar gegeneinander gekämpften, teilten sie doch eine tiefe Liebe zu ihren Städten, Hügeln und Flüssen. Es war wohl das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals, das sie davor bewahrte, einander vollends zu vernichten.“[1]
Raphael Lemkin begeisterte sich schon als Kind für historische Themen. Zu den ersten Büchern, die seine späteren Lebensentscheidungen beeinflusst haben, gehörte „Quo Vadis“ von Henryk Sienkiewicz. Dieser Roman beeindruckte den Jungen so sehr, dass er damit begann, nach ähnlichen Beispielen von Verfolgungen in der Geschichte der Menschheit zu suchen. „Die Häufigkeit solcher Fälle, das große Leid der Opfer, die Unentrinnbarkeit aus ihrem Schicksal und die Unmöglichkeit, den Schaden an Leben und Kultur jemals wiedergutmachen zu können, faszinierten mich“, schreibt er in seinen Erinnerungen.[2] Als Heranwachsender lernte er die Grausamkeiten des Krieges kennen, als die Stadt und der Rayon Wolkowysk 1915 unter deutsche Besatzung fielen. Er schaffte es jedoch, nach Białystok zu entkommen, um dort das Gymnasium zu besuchen und schloss es 1919 ab. Kurz darauf brach der polnisch-sowjetische Krieg aus und der frisch gebackene Abiturient trat in der Nähe von Wolkowysk in eine Sanitätseinheit der polnischen Armee ein. Nach dem Krieg ging er erst nach Kraków (Krakau), um an der Jagiellonen-Universität Jura zu studieren und wechselte 1921 an die juristische Fakultät der Jan-Kazimierz-Universität in Lwów / Lemberg (heute Lviv). In dieser Zeit besuchte er Seminare angesehener Rechtsprofessoren wie Juliusz Makarewicz und Leon Piniński. Außerdem hat Lemkin 1922 das sowjetische Strafgesetzbuch ins Polnische übersetzt. Seine vielen Reisen führten ihn auch zu Forschungszwecken an die Universität Berlin und an die Sorbonne. 1926 schrieb er sich im Fach Philosophie in Heidelberg ein.
Der Beginn der Lebensaufgabe
Die Ereignisse der 1920er Jahre förderten Lemkins Interesse an Fragen der strafrechtlichen Verantwortung für die Vernichtung von Bevölkerungsgruppen und ganzer Völker. Vor allem die Erschießung Talât Paschas auf offener Straße in Berlin im Jahr 1921 beeindruckte ihn sehr. Der frühere türkische Innenminister war [im ersten Weltkrieg] hauptverantwortlich für den Völkermord an den Armeniern. Der Täter war ein junger Armenier, der bei den Massakern von 1915 bis 1917 (als es den Begriff des Völkermords noch nicht gab - Anm. der Autorin) 89 Mitglieder seiner Familie verloren hatte. Talât Pascha lebte damals unter falschem Namen in Berlin und es kam nicht dazu, ihn wegen seiner Taten vor Gericht zu stellen. Tatsächlich wurde er lediglich in Armenien in Abwesenheit zum Tode verurteilt). Der Grundsatz der Souveränität von Staaten ließ es nicht zu, jemanden zu verurteilen, der für ethnisch motivierte Morde in einem anderen Land verantwortlich war.
„Die Ermordung eines Individuums ist ein Verbrechen. Ist es dagegen kein Verbrechen, mehr als eine Million Menschen zu töten?“[3] Diese Frage stellte Raphael Lemkin einem seiner Professoren an der Lemberger Universität und sie sollte zur Initialzündung für die Lebensaufgabe des ehrgeizigen Juristen werden, die darin bestand, eine Rechtsgrundlage für die Vereinheitlichung moralischer und juristischer Standards hinsichtlich der Vernichtung nationaler, rassischer und religiöser Gruppen zu schaffen.[4] Lemkin wusste, dass die Realisierung seines Vorhabens nicht ohne Unterstützer gelingen konnte, so dass er daranging, seine entsprechenden Kontakte auszubauen. Zugleich erklomm er rasch die juristische Karriereleiter: 1929 wurde er stellvertretender Staatsanwalt in Warschau. Bald darauf stieg er zum Sekretär des Unterausschusses für Strafrecht im Ausschuss für die Kodifizierung des Rechts der Republik Polen (Komisja Kodyfikacyjna RP) auf, in dem er sich mit dem polnischen Strafgesetzbuch befasste. Außerdem gehörte er dem Internationalen Büro für die Vereinheitlichung des Strafrechts an, wo er mit den angesehensten Juristen Westeuropas zusammengearbeitet hat. Daraufhin versuchte Raphael Lemkin im Oktober 1933 anlässlich der internationalen Konferenz für Vereinheitlichung des Strafrechts in Madrid, sein Konzept zur Anerkennung der Vernichtung ethnischer, religiöser oder rassischer Gruppen als Verbrechen durchzusetzen. Ausschlaggebend für diesen Schritt war die damalige politische Situation in Europa: „Hitler hatte seine Blaupause der Zerstörung bereits bekannt gemacht. Viele dachten, es sei nur Großtuerei, aber ich war davon überzeugt, er würde seine Pläne verwirklichen, wenn man ihn nur ließe. Die Welt verhielt sich, als würde sie in Hitlers Pläne einwilligen. Die polnische Regierung verhandelte einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. In Völkerbund-Kreisen machten meine Freunde sarkastische Bemerkungen über den Pakt, der ihrer Meinung nach die kollektive Sicherheit untergraben würde. Es war an der Zeit, ein System der kollektiven Sicherheit zu errichten, um das Leben der Völker zu schützen.“[5]
[1] Frieze, Donna-Lee: Raphael Lemkin. Ohne Auftrag. Die Autobiografie von Raphael Lemkin, übersetzt von Stephanie Arzinger, Irmtrud Wojak, Donna-Lee Frieze, Joaquín González Ibáñez (Hrsg.), in: Bibliothek Literatur und Menschenrechte, Buxus Stiftung, Berg Institute, Buxus Edition 2020, Seite 65.
[2] Ebd., S. 62.
[3] Brockschmidt, Rolf: Das unfassbare benennen, in: „Tagesspiegel“, 13.02.2022, URL: https://www.tagesspiegel.de/wissen/wie-raphael-lemkin-den-genozid-begriff-praegte-das-unfassbare-benennen/28062128.html (zuletzt aufgerufen am 07.04.2022).
[4] Frieze, Donna-Lee: Raphael Lemkin. Ohne Auftrag..., S. 88.
[5] Ebd., S. 89.