Paulina Lemke – Nestorin der Polonia in der Nachkriegszeit

Paulina Lemke, 2017.
Paulina Lemke, 2017.

Paulina Lemke wurde 1924 im Dorf Polanówka bei Lublin geboren. Ihr Vater, Tomasz Kukiełka, ein ehemaliger Angehöriger der Armee von General Józef Haller, der mit dem „Virtuti Militari“-Orden[3] dekoriert worden war, betrieb eine Landwirtschaft und beschäftigte sich nebenbei auch mit Musik. Als Kind vaterlandstreu erzogen zeigte seine Tochter schon früh ihr Talent zu malen, was ihr später half, den Krieg zu überstehen. Nachdem sie die Grundschule als Klassenbeste abgeschlossen hatte, besuchte sie das Gymnasium in Tomaszów Lubelski, wo sie sich dem Polnischen Pfadfinderverband (Związek Harcerstwa Polskiego) verschrieb. Diese unbeschwerte Zeit wurde durch den Zweiten Weltkrieg beendet. Als er ausbrach, war Paulina 15 Jahre alt, wobei sie die ersten Kriegsjahre in ihrem Elternhaus verlebte. Da man wusste, wie gut sie zeichnen konnte, wollten damals viele Menschen von ihr gezeichnete Porträts. Dies sprach sich auch zu den Deutschen herum, die daraufhin massenhaft Bildnisse ihrer Nächsten bei ihr in Auftrag gaben, die Paulina Lemke auf Grundlage von vorgelegten Fotografien erstellte. In der Besatzungszeit entstanden so 680 Konterfeis. Diese Betätigung half ihr, ihr Leben zu retten und zugleich wertvolle Informationen für den polnischen Widerstand zu erlangen: Bezahlt wurde ihr das künstlerische Schaffen nicht, dafür aber konnte sie Kontakte knüpfen, dank derer es gelang, verhaftete Soldaten der Untergrundarmee zu befreien. In diesem Sinne hat es Paulina Lemke auch auf wundersame Weise verstanden, ihren Bruder aus dem Konzentrationslager Majdanek auszulösen.

Paulina Lemke besitzt heute nur noch ein einziges Werk aus dieser Zeit. Dabei handelt es sich um das Porträt der jungen Irene Lampe-Hartman aus Magdeburg, das sie 1941 auf Wunsch ihres Verlobten angefertigt hat. Beide Frauen überlebten den Krieg und kamen 1977 zusammen. Bei dieser Begegnung vermachte Irene Lampe-Hartman Paulina Lemke das Bild.

Die Deutschen hatten seinerzeit jedoch spezielle Pläne für die Gegend, in der sie lebte. Aufgrund der sehr fruchtbaren Böden im Raum Zamość beschloss die nationalsozialistische Regierung im Rahmen des „Generalplans Ost“, 60.000 Reichsangehörige dort anzusiedeln und die polnische Bevölkerung zu vertreiben oder sie zugunsten der neuen Siedler zu unterjochen. Zum ersten Mal sollte Paulina im November 1940 deportiert werden. Sie entging der Verhaftung und der Vertreibung nur, weil der Gendarmenführer sie noch aus der Vorkriegszeit bei den polnischen Pfadfindern kannte. Er arrangierte die Situation so, dass Paulina Lemke sich entziehen konnte. Unterschlupf fand sie im Spital in Tomaszów Mazowiecki, in dem sie als Krankenschwester wirkte. Dieses Krankenhaus unterstützte die polnische Widerstandsbewegung. Es versorgte verletzte Partisanen und war für die lokale Bevölkerung da – beides natürlich inoffiziell. Dank ihres Muts und ihrer deutschen Sprachkenntnisse schleuste Paulina Lemke Kranke und Verwundete an den deutschen Posten vorbei, nahm an Transporten teil und riskierte dabei ihr Leben. In ihrer knappen Freizeit, die ihr einmal im Monat gewährt wurde, malte sie für die Ordensschwestern. Darin war sie so gut, dass die Krankenhausleitung sie schließlich bis zum Ende des Kriegs von er Arbeit freistellte, damit sie lernen und ihre künstlerischen Fähigkeiten weiterentwickeln konnte. In dieser Zeit absolvierte sie das Untergrund-Gymnasium und nahm nach dem Ende des Kriegs eine Ausbildung an der pädagogischen Schule in Lublin auf.

 

 

[1] Polonia ist ein Sammelwort für Polen und aus Polen stammende Menschen, die auf der ganzen Welt in der Diaspora leben.

[2] Der Bund der Polen in Deutschland „Zgoda“ (Eintracht) ging 1950 aus der Spaltung des Bundes der Polen in Deutschland „Rodło“ hervor.

[3] Höchster polnischer Militärverdienstorden.

Da sie nicht anstrebte, Lehrerin zu werden, zog sie 1945 nach Krakau (Kraków), wo sie unter 600 Studienbewerbern die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Malerei und Bildhauerei  der Kunstakademie bestand. Dort lernte sie Konrad Nałęcki, Andrzej Wróblewski und Andrzej Wajda kennen, der sie davon überzeugen wollte, mit ihm zusammen an die Filmhochschule in Łódź zu wechseln. Paulinas Liebe zur Malerei war jedoch für diesen Schritt zu groß. 1950 erlangte sie trotz finanzieller Probleme ihr Diplom und wurde dem Hauptstab der 5. polnischen Armee zugeteilt, wo sie eine Anstellung als Graphikerin erhielt. Seinerzeit hat sie auch geheiratet und bekam ihren einzigen Sohn Henryk Dechnik (1951-2018), den sie patriotisch erzog. Turbulenzen in ihrem Privatleben führten dazu, dass sie verschiedene Jobs annehmen musste, unter anderem in Nowa Huta und Krakau, bis ihr das legendäre Juliusz-Słowacki-Staatstheater in Krakau (Państwowy Teatr im. Juliusza Słowackiego w Krakowie) eine Stelle in der Werkstatt für Bühnenbilder bot, die sie später leiten sollte. Im Dezember 1963 siedelte Paulina Lemke mit ihrem Sohn nach Düsseldorf um, wo sie dann den Deutschen Georg Lemke ehelichte.

In der Fremde angelangt, gelang es Paulina Lemke sehr bald, eine Arbeit zu finden, und zwar in der Werbeabteilung der Düsseldorfer Niederlassung des größten Warenhauskonzerns, der Kaufhof AG. Dort blieb sie mit kurzen Unterbrechungen als Dekorateurin, Graphikerin und Malerin bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1985. Unter den 14 dort beschäftigten deutschen Graphikern war sie die Einzige mit einem Hochschuldiplom, so dass die Weiterbildung der Kollegen in ihre Hände gelegt wurde. Ihre technisch vielseitigen Entwürfe wurden in allen Niederlassungen der Warenhauskette in der Bundesrepublik umgesetzt und mitunter auch bei internationalen Ausstellungen der Branche prämiert, was sich jedoch leider finanziell nicht für sie ausgezahlt hat. Man teilte ihr sogar mit, dass sie nicht mehr verdienen würde, solange sie ihre [polnische] Staatsbürgerschaft beibehalte. Für Paulina Lemke aber spielte das Engagement für die Polonia eine viel wichtigere Rolle. Ihr Sohn Henryk bezeichnete ihre Wohnung als „Klein-Polen”. An diesen Ort pilgerten hunderte ihrer Landsleute, die sie nach ihrem Auszug aus der Heimat um Starthilfe in der neuen Wirklichkeit baten. Im kommunistischen Polen wurde mit Paulina Lemkes Adresse hoch gehandelt und damit kommentiert, sie sei reich und helfe jedem. Insofern kam es hin und wieder zu merkwürdigen und manchmal sogar bedenklichen Situationen. Paulina Lemke war keine Millionärin, sondern unterstützte die Bittsteller trotz ihrer bescheidenen Möglichkeiten nach Kräften, indem sie den Polen, die in Deutschland ankamen, nicht nur mit Rat zur Seite stand, sondern auch mit ihren deutschen und polnischen Freunden Medikamente kaufte, um Spenden warb und Pakete auf eigene Kosten verschickte.

Ihren Aktivitäten für die Polonia, die sie nun seit 55 aufrechterhält, maß sie immer die größte Bedeutung bei. In diesem Zusammenhang entwarf sie das Emblem des Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda” und die Abzeichen seiner Mitglieder. Außerdem schuf sie unter anderem Medaillen, Pokale und Illustrationen für die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Vereinsfahne des Bundes, die von Papst Johannes Paul II. geweiht wurde. Daneben entstanden viele weitere Arbeiten auch im Auftrag des Bundes der Polen in Deutschland „Rodło”[4]. Zugleich publizierte sie in der Polonia-Presse, etwa im „Głos Polski” (Polnische Stimme) und in „Forum Polonijne” (Forum der Polonia). In ihrer Eigenschaft als stellvertretende Vorsitzende und Sekretärin des Baukomitees für das Polnische Haus in Recklinghausen (Społeczny Komitet Budowy Domu Polskiego) hat sie zehn Jahre lang Geld für das Projekt gesammelt, wobei sie auch selbst beträchtliche Beträge und Bilder zur Verfügung gestellt hat. Zudem hat sie in ihrer gemeinnützigen Arbeit viele Spendenaufrufe zur Unterstützung von Menschen in Polen organisiert.

 

 

[4] Der Bund der Polen in Deutschland „Rodło“ wurde 1922 in Berlin als Verein eingetragen. Das Wort „Rodło“ setzt sich aus Buchstaben der polnischen Worte „rodzina“ (Familie) und „godło“ (Wappen) zusammen.

Für Ihre Verdienste um die Polonia wurde Paulina Lemke mit vielen Preisen geehrt. Unter anderem erhielt sie 2003 die „Adlerfeder der Polonia“ und 2004 das Ritterkreuz des Verdienstordens der Republik Polen. 2013 folgte die Ehrenmedaille „Bene Merito”, eine Auszeichnung, die der polnische Außenminister an Personen vergibt, die sich dafür verwenden, Polens Reputation international zu fördern. 2009 zeichnete sie die europäische Polonia mit dem renommierten „Polonicus-Preis“ in der Kategorie Polnische Organisationen aus.

Die Düsseldorfer Wohnung von Paulina Lemke ist auch im Alter - und trotz ihrer Krankheit - „Klein-Polen“ geblieben. Neben Bildern, die sie im Ruhestand wieder vermehrt malt, stechen dort der polnische Adler mit Krone, ein dekorativer Teller des Bundes der Polen „Zgoda“ und Porträts ihrer Enkelinnen in Krakauer Trachten ins Auge. Sogar der Weihnachtsbaum ist mit weiß-roten Christbaumkugeln geschmückt. „Hier ist mein Stückchen Polen“– räumt Paulina Lemke mit einem Lächeln ein.

 

Roma Stacherska-Jung, August 2018

 

 

(Alle Fußnoten sind Anmerkungen der Übersetzerin.)

 

 

Pepe TV: Beitrag aus dem Jahr 2014, anlässlich des 90. Geburtstags von Paulina Lemke mit O-Tönen ihres Sohnes Henryk Dechnik sowie von Marek Pałczyński und Tadeusz Sokołowski aus Dortmund (in polnischer Sprache)

https://www.youtube.com/watch?v=iBEDzA1QdnU

 

Literatur:

Kamiński, Ireneusz, J., Życie i twórczość Pauliny Lemke. Leben und Werk der Paulina Lemke, Adam, 2014.

Kucharski, Władysław, Związek Polaków Zgoda w Republice Federalnej Niemiec, Lublin 1976.

 

 

Weitere Informationen:

https://www.dw.com/pl/legenda-polonii-w-niemczech-paulina-lemke-i-jej-ma%C5%82a-polska/a-47333601

 

 

 

Mediathek
  • Paulina Lemke, 2017

    Paulina Lemke, 2017
  • Kennkarte von Paulina Lemke

    Kennkarte von Paulina Lemke (Kukiełka), ausgestellt in Zamość, 1942
  • Ausweis des Verbands Polnischer Künstler von 1957

    Ausweis des Verbands Polnischer Künstler in Krakau (Związek Polskich Artystów Plastyków) von Paulina Lemke (Dechnik), ausgestellt 1957 in Warschau.
  • Bilder in der Düsseldorfer Wohnung von Paulina Lemke

    Bilder in der Düsseldorfer Wohnung von Paulina Lemke
  • Lebensgeschichte

    Lebensgeschichte von Paulina Lemke in Fotos
  • Sohn Henryk Dechnik mit seinen Töchtern, Ausschnitt eines Fotos aus den 1980er Jahren

    Sohn Henryk Dechnik mit seinen Töchtern, Ausschnitt eines Fotos aus den 1980er Jahren
  • Weiß-rot geschmückter Weihnachtsbaum bei Paulina Lemke

    Weiß-rot geschmückter Weihnachtsbaum bei Paulina Lemke
  • Paulina Lemke signiert ein Buch

    Paulina Lemke signiert das Buch von Ireneusz J. Kamiński über ihr Leben und ihr Werk
  • Buchcover mit Emblem

    Buchcover mit dem Emblem des Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda“ nach dem Entwurf von Paulina Lemke, 1976
  • Vereinsfahne Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda“

    Vereinsfahne Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda“ nach dem Entwurf von Paulina Lemke
  • Vereinsfahne Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda“

    Vereinsfahne Bundes der Polen in Deutschland „Zgoda“ nach dem Entwurf von Paulina Lemke
  • Paulina Lemke mit Tadeusz Sokołowski, 2017

    Paulina Lemke mit Tadeusz Sokołowski, 2017
  • Tadeusz Sokolowski bei Paulina Lemke 2017

    Tadeusz Sokolowski in der Düsseldorfer Wohnung von Paulina Lemke, 2017.
  • Glückwunschkarte von Paulina Lemke an Tadeusz Sokołowski

    Glückwunschkarte von Paulina Lemke an Tadeusz Sokołowski aus Dortmund (Spiritus Rector und Vorsitzender der Polnischen Kulturgesellschaft in den 1970er Jahren)