Paul Bokowski
Paul Bokowskis Eltern verließen ihre schlesische Heimat Ende 1981. Sie wagten diesen Schritt teils aus politischer Überzeugung, teils aus Sehnsucht nach einem wirtschaftlich besseren Leben. In Deutschland bemühten sie sich erfolgreich um die Anerkennung ihrer Abschlüsse und arbeiteten fortan als Verwaltungsfachangestellte und als Chemiker. Als Kind mit Migrationshintergrund erlebte sich Paul Bokowski früh in einer etwas exklusiven Position. Die anderen Kinder im Kindergarten und später in der Grundschule hatten mehrheitlich einen weniger exotischen Hintergrund vorzuweisen. Bokowski erlebte dieses Herausgehobensein gelegentlich als ausgrenzend, zeitweise als erhebend. Manchmal konnte er selbstbestimmt mit seiner Rolle spielen, manchmal wurde sie ihm fremdbestimmt von außen zugeschrieben. Heute glaubt er, dass er auch deshalb von klein auf seine Umgebung eher schüchtern sondiert hat, als Hals über Kopf zu agieren. Für eine Schriftstellerlaufbahn ein guter Start, denn so trainierte Bokowski eine Beobachtungsgabe, die ihm in seinen oftmals gnadenlos komischen Kurzgeschichten und Erzählungen zu Gute kommt.
Heute gehört Paul Bokowski als Autor, Geschichtenerzähler und Vorleser zu den deutschlandweit bekannten Aushängeschildern der Berliner Lesebühnenszene. Vor allem seinen ersten Kurzgeschichtenband „Hauptsache nichts mit Menschen“ (2012) hat er auch auf Poetry Slams in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz präsentiert. Seine Auftrittstermine führen ihn von Aachen nach Wien und von Zürich nach Bergen auf Rügen. Im Laufe der Jahre hat sich Bokowski mit seinem so feinsinnigen wie unerschrockenen Humor und seinen lakonisch-pointierten Alltagsbetrachtungen eine treue Fanschar erobert, die auch seine nachfolgenden Kurzgeschichtenbände „Alleine ist man weniger zusammen“ (2015) und „Bitte nehmen Sie meine Hand da weg“ (2019) zu erfolgreichen Longsellern in zahlreichen Auflagen gemacht hat.
Besonders gut zur Geltung kommen Bokowskis Texte, wenn er sie mit seiner angenehm tiefen Stimme selbst vorträgt. Dann verschwimmen die Grenzen von Autor und Icherzähler noch mehr, als sie es in den alltagsnahen Geschichten ohnehin tun, was besonders live oder auf seinem Best-of-Hörbuch „Feine Auslese“ (2020) zu erleben ist. In einer Sprache, die gleichzeitig geschliffen und publikumswirksam ist, berichtet Bokowski mit wachem Blick von den Fallstricken des Miteinander, amüsanten familiären Missverständnissen und Verstrickungen, den absurden Seiten des modernen Lebens und Arbeitens sowie aus seiner Wahlheimat, dem ehemaligen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding. Und er schildert offen und mit Mut zur Selbstironie seine Erfahrungen als Migrantenkind, als Homosexueller und als Mensch, der durch seine Eltern die Reibung von polnischer an deutscher Mentalität sehr genau mitbekommen hat. Dabei erinnert er immer wieder an seine Vorbilder wie den frühen Woody Allen oder die humoristischen Autoren David Sedaris und Joachim Meyerhoff, die die eigene Biografie unerschrocken ausschlachten und mitunter zu etwas Parabelhaftem überhöhen. Weitere Einflüsse, die sich bei Bokowski zu etwas Eigenständigem verbinden sind beispielsweise Ephraim Kishon, Roald Dahl und Max Goldt. Genannt werden müssen außerdem Sue Townsend (die englische Erfinderin von „Adrian Mole“), die amerikanische Autorin Jenny Lawson und literarische Schwergewichte wie David Foster Wallace.
Bokowskis Schreiben ist aber keineswegs allein aus seiner Kindheit und seinen Lektüreeindrücken zu erklären. Unbedingt muss auch die Berliner Lesebühnenszene als besonders wichtiger Einfluss auf den Autor genannt werden. Nach Ausflügen in die Lyrik, die er selbst als „beschämende postpubertäre Feldversuche“ bezeichnet, ersten Prosatexten sowie Umtrieben im Umfeld der Mainzer Kammerspiele, begann eine für Bokowski entscheidende Phase mit seinem Umzug nach Berlin. Dort fand er eine Subkultur vor, die durch das Vorlesen selbstverfasster kurzer, unterhaltsamer Texte in Ichform Woche um Woche ein Publikum in Kneipen und Kulturkellern zu begeistern wusste. Die Ende der 1980er Jahre entstandene Szene erlebte auch Bokowski noch als vital und unprätentiös. Kategorien wie „Erfolg“, „Hierarchien“ und „Umsatz“ werden in dieser freiheitlichen (vor allem linksalternativen) Literaturbewegung bewusst nachrangig behandelt. Man gibt sich lässig, fast nichtsnutzig, und zelebriert in scharfsinnigen Skizzen aus dem Alltag einen anarchischen Geist, der sich bei den vielen ostdeutschen Protagonisten der Szene auch aus der Erfahrung eines Systemwechsels speiste. In dieser weder erfolgs-, noch profitorientieren Szene fand Bokowski die Möglichkeit bald auch regelmäßig vor Publikum aufzutreten, seinen Stil zu verfeinern, sein Timing und seine Vortragskunst zu verbessern und zusammen mit einem wachsenden Selbstbewusstsein auch eine eigene Stimme zu entwickeln.