Oper als Erinnerungsort. „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg 2017 in Gelsenkirchen
Wie in einem Film oder einer Dokumentation werden der grauenvolle Alltag und die tragischen Schicksale der Inhaftierten in einzelnen Szenen dargestellt. Auffallend ist, dass die emotionale Musik trotz der umfangreichen und voluminösen Instrumentierung erlaubt, jedes gesungene Wort gut zu verstehen. Texte und Übersetzungen ins Deutsche wurden laufend in Übertiteln eingeblendet. Die Musik bleibt zwar stets die treibende Kraft der Inszenierung, hält sich jedoch, meisterlich durch den Dirigenten gestaltet, gegenüber den im Gesang verbalisierten und geradezu erdrückenden Inhalten im Hintergrund.
Einer der unvergesslichen Momente ist die Partie der Russin Katja, die ohne Orchesterbegleitung ein russisches Volkslied singt. Die beeindruckende Stille im Publikum wirkte als einzig zulässige Reaktion auf das vorgetragene Lied. Ähnlich erschütternd die Szene, in der sich Tadeusz, ein Violinist, weigert, für den Lagerkommandanten einen Walzer zu spielen und stattdessen – was sein Todesurteil bedeutete – spontan die Chaconne von Johann Sebastian Bach aufführt.
Wie die Weissagungen der Kassandra wirkt der Gesang des unsichtbar positionierten Chors, der die schmerzlichen Erinnerungen betont und verdeutlicht. Der Spannungsbogen der Aufführung erreicht seinen Höhepunkt, als in den Schlussszenen deutlich wird, dass es diese Erinnerungen sind, die als einziges Mittel für die Aufarbeitung des Leids fungieren können und zugleich als Mahnung für die Zukunft notwendig sind.
Die 1923 in Krakau geborene Zofia Posmysz, die 1942 ins KZ Auschwitz-Birkenau verschleppt und 1945 im KZ Ravensbrück befreit wurde, war bei der Premiere der Oper „Die Passagierin“ am 28. Januar 2017 im Gelsenkirchener Musiktheater anwesend. Nach der Aufführung betrat sie die Bühne und wurde vom Publikum mit langen stehenden Ovationen gewürdigt. Die in ihrem Werk stets durchscheinende Absicht, die Deutschen zu verstehen und ihnen eine positive Seite abzugewinnen, schien sich in diesem Moment zu verwirklichen.
Jacek Barski, März 2017