Worte sind Musik – Sprache ist Stimme: Marta Górnicka und das politische Chortheater

Marta Górnicka
Marta Górnicka

All diesen gesellschaftspolitisch relevanten, konfliktgeladenen und hoch aktuellen Themen ihrer Inszenierungen widmet sich Górnicka mit den Mitteln des (präzise choreografisch durchdeklinierten) Chortheaters, das seine historischen Bezugspunkte in der griechischen Antike hat: Rituale und Zeremonien von Gemeinschaft, kollektiver Tanz und Gesang. Zugleich geht Górnicka demonstrativ über diese Grenzen hinaus, indem sie auf die Diversität des Ensembles setzt und insbesondere Frauen zu Wort kommen lässt, deren Körper und Stimme bis heute marginalisiert werden. Für Górnicka und ihre Arbeiten dient der Chor als eines der kraftvollsten Elemente des Theaters und als zentrales Mittel, den sozialen, kulturellen, ökonomischen oder religiösen Charakter des Menschen kritisch zu reflektieren – und doch schien der Chor als kraftvolle Figur und dramaturgisches Mittel im nachantiken Theater lange Zeit vergessen zu sein.

Während im deutschsprachigen Theater mit den Inszenierungen des Theaterregisseurs Einar Schleef in den 1980er Jahren eine Wiedergeburt des Chors im Theater der jüngeren Zeit gefeiert wurde, ließ diese Entwicklung im Nachbarland Polen lange auf sich warten. Erst mit ihrer Gründung des „Chór Kobiet“ im Jahr 2010 gab Górnicka in Polen endlich die entscheidenden Impulse für ein neues chorisches Theater, das nicht männerdominiert, sondern überwiegend bis vollständig von weiblichen Stimmen geprägt war. Gerade vor dem Hintergrund des seit einigen Jahren anhaltenden „Roll-Back“ bei der Rolle der Frau in Polen ist dies gleichermaßen progressiv wie sensationell. Aber auch wenn in der polnischen Kulturszene die Aufführungen des Frauenchors schnell als ein Theaterereignis der letzten Jahre gefeiert und mit Auszeichnungen honoriert wurden, stieß Górnickas unkonforme und progressive politische Haltung sowie das in ihren Stücken vermittelte kritische Polen-Bild bei kulturpolitischen Entscheidungsträgern in ihrem Heimatland auf Ablehnung, so dass sie mitunter von Schwierigkeiten bei der Kulturförderung zu berichten weiß.[2] Dagegen wurde und wird auch weiterhin ihr chorisches Sprechtheater bei Gastspielen auf den Bühnen der Welt umjubelt aufgenommen und findet großen Zuspruch ­– insbesondere in Frankreich und Deutschland[3], wo sie aktuell am Maxim Gorki Theater und am Münchner Kammerspiel tätig ist und ihre Arbeit in dem von ihr gegründeten POLITICAL VOICE INSTITUTE weiter intensiviert.

Was diese talentierte Regisseurin noch mehr aus einem Chor herausholen kann – performativ wie inhaltlich? Mit einem pulsierenden Maß an auflebender Emotionalität, Tonalität und Botschaft reißen die Dirigentin und ihr Ensemble bei jeder der Inszenierungen das Publikum regelrecht mit und stoßen uns auf alles Fragile unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, die lebendigen Konflikte unseres Miteinanders, die Gegenwärtigkeit von Ungerechtigkeiten, aber sie zeigen eben auch die Klarheit und Schönheit unseres Grundgesetzes in Ausdruck und Sprache. Und dies erschreckt und begeistert gleichermaßen. Auch am Brandenburger Tor an diesem 3. Oktober 2018 wird das dargebotene Schauspiel mit Szenenapplaus honoriert: So beispielsweise bei dem Passus „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Artikel 16a) und bei „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (Artikel 20) … bis sich zum Schluss der Chor in der „Patriotic Disco“ tänzerisch auflöst und die Teilnehmer*innen wild und individuell auf der Bühne durcheinander wuseln.

Was bleibt von diesem eindrucksvollen Schauspiel, ist die Erkenntnis, dass unsere Verfassung als Sammlung unserer Werte wunderbar ist. Und wir alle sind in der Verantwortung, diese Grundwerte unserer Demokratie und unseres Zusammenlebens zu schützen. Jede und jeder Einzelne von uns.

 

Katarzyna Salski, Juli 2020

 

 

Weitere Informationen: 

https://www.gorki.de/de/ensemble/marta-gornicka

http://www.martagornicka.com/Gornicka/HOME.html  

 

Literatur:

Thomas Irmer: Die Gesellschaft auf der Bühne. Zum Chortheater der polnischen Regisseurin Marta Górnicka, in: Theater der Zeit, Heft 03/2017. Online: https://www.theaterderzeit.de/2017/03/34822/komplett/ (abgerufen am 30.07.2020)

Anna Opel: Das sprechende Wir, in: Deutschen Bühne, Heft 03/2020. Online: https://www.die-deutsche-buehne.de/das-sprechende-wir (abgerufen am 30.07.2020)

 

[2] Vgl. Interview mit Marta in der Berliner Morgenpost, vom 25.10.2019. Online: www.morgenpost.de/kultur/article227469627/Marta-Gornicka-Chortheater-hat-revolutionaere-Kraft.html (abgerufen am 30.07.2020)

[3] Vgl. Interview mit Marta Górnicka auf culture.pl: https://culture.pl/pl/tworca/marta-gornicka (abgerufen am 30.07.2020)