Maria Kwaśniewska und die Geschichte einer Fotografie
Der Krieg und die Rückkehr in die Heimat
Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs überrascht Maria Kwaśniewska in Italien, wo sie sich in Genua mit einem Stipendium des Polnischen Leichtathletik-Verbands (Polski Związek Lekkiej Atletyki) auf die die Olympischen Spiele 1940 in Helsinki vorbereitet, die dann wegen des Angriffs der UdSSR auf Finnland abgesagt werden. Zu dieser Zeit zählt Kwaśniewska der Weltspitze an. Als sie vom Überfall Deutschlands auf Polen hört, entscheidet sie sich, das damals sichere Italien zu verlassen und nach Warszawa (Warschau) zurückzukehren. „Ich kam ins Land sozusagen gegen den Strom. Man sprach bereits vom Krieg, also hätte ich auch [in Italien] bleiben können. Alle versuchten, mich dazu zu überreden, aber ich wollte es nicht. Am Grenzübergang Zebrzydowice sah man mich ein wenig an, als wäre ich verrückt. Die Menschen verließen massenhaft das Land und ich kehrte nach Warszawa zurück, auch wenn ich nicht recht wusste, womit und wie ich das anstellen sollte“ – so Maria Kwaśniewska über diesen Moment in einem Interview, das sie im Jahr 2000 der Zeitung „Rzeczpospolita” gab.[3]
Am 2. September 1939 stellt sich Kwaśniewska in Warschau vor. Sie hat vor einem Jahr einen Kurs zur Sanitäterin gemacht. Einen Führerschein besitzt sie auch. Ab sofort wird sie als Krankenwagenfahrerin im Bereich des Warschauer Elektrizitätswerks in der Wybrzeże-Kościuszkowskie-Straße eingesetzt und soll verletzte Soldaten aus den Schützengräben in die Krankenhäuser transportieren. Für ihre Teilnahme an der Verteidigung Warschaus wird sie noch vor der Kapitulation der Hauptstadt von Stefan Starzyński, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, mit dem Tapferkeits-Kreuz (Krzyż Walecznych) ausgezeichnet. Während des Kriegs lernt Maria Kwaśniewska ihren zweiten Ehemann, Julian Koźmiński, kennen. Er ist Direktor des Elektrizitätswerks und Kommandant der Verteidigung von Warschau. Doch ihr Glück währt nicht lange. Koźmiński wird von der Gestapo verhaftet und in das Gefängnis in der Szucha-Allee verbracht, das er so krank verließ, dass er kurz darauf verstarb. Noch zu seinen Lebzeiten jedoch zieht das Ehepaar in ein Haus in Podkowa Leśna bei Warschau.
Der Passierschein ins Leben
In der Zeit nach dem Wohnungswechsel ist Kwaśniewska ununterbrochen im Widerstand aktiv. Anfang August 1944 wird im nahegelegenen Pruszków das Durchgangslager 121, auch Dulag 121 genannt, von den Nazis errichtet. Es handelt sich um ein Lager für Warschauer Zivilbevölkerung, die im Warschauer Aufstand und nach seiner Zerschlagung aus ihren Häusern vertrieben wurde. Innerhalb eines halben Jahres werden rund 400.000 Menschen durch dieses Lager geschleust. Die Nazis führen dort Selektionen durch: wer kräftig genug ist, wird zur Zwangsarbeit eingeteilt, die Schwachen, Alten und Kranken werden in Konzentrationslager verbracht.
Zu dieser Zeit erinnert sich Maria Kwaśniewska an das tief in einem Koffer versteckte Foto mit Adolf Hitler. Sie nimmt es mit und zeigt es den Wachmännern am Eingangstor des Lagers Pruszków. Das Foto wirkt wie ein Passierschein. Gewiss wissen die Gendarmen nicht, wer Kwaśniewska ist, wollen aber der Frau, die den Führer persönlich kennt, nicht widersprechen, also salutieren sie vor ihr und erlauben ihr, das Lagergelände zu betreten. Maria Kwaśniewska holt Gefangenen aus den Baracken, zuerst jeweils ein Paar, später, ermutigt durch die Reaktion der Wachposten, ganze Gruppen. „Ich habe die Leute nach draußen gebracht, erst nach Pruszków und dann nach Podkowa Leśna, in mein Haus. In meinem Haus hatte ich ein Durchgangslager“, erinnert sich Kwaśniewska und fügt zu: „Die Gendarmen führten ihre Hände an die Mützen und ließen meine Transporte durch.“[4]
Wie viele Menschen ihr Leben der berühmten Speerwerferin verdanken, ist unbekannt. Sicher ist, dass die Schriftstellerin Ewa Szelburg-Zarembina sowie der Schriftsteller und Feuilletonist Stanisław Dygat dazugehören. Viele der von Maria Kwaśniewska geretteten Personen hielten noch viele Jahre nach dem Krieg Kontakt zu ihr.
Ein sporterfülltes Leben
Nach dem Ende des Kriegs kehrt die Leichtathletin für eine kurze Zeit zum Sport zurück. Sie ist jetzt 32 Jahre alt und hat ihre beste Zeit hinter sich. Trotzdem wird sie noch ein Mal, ein letztes Mal, polnische Meisterin im Speerwurf und vertritt ihr Land noch einige Male im Basketball. 1946 verabschiedet sie sich bei den Europameisterschaften in Oslo, wo sie im Speerwurf den sechsten Platz belegt, vom aktiven Sport, bleibt ihm aber treu. Von 1947 bis 1979 gehört sie dem Vorstand des Polnischen Leichtathletik-Verbands an und wirkt auch über 20 Jahre im Leichtathletik-Weltverband (IAAF) mit.[5] Außerdem ist sie Mitbegründerin des Olympioniken-Klubs (Klub Olimpijczyka), langjähriges Mitglied des Polnischen Olympischen Komitees (Polski Komitet Olimpijski) und Trägerin der „Kalós Kagathós”-Medaille (2003).[6] Maria Kwaśniewska ist auch die erste polnische Sportlerin, die für ihre Verdienste um die Olympischen Spiele den Olympischen Orden in Bronze erhielt (1978). 2003 wurde in der Ortschaft Spała eine nach ihr benannte Gedenkstätte des polnischen Sports (Park Pokoleń Mistrzów Sportu) eingerichtet.
Maria Kwaśniewska, die bis zum Ende aktiv blieb, starb am 17. Oktober 2007 im Alter von 94 Jahren in Warschau. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem alten Teil des Powązki-Friedfofs.
Monika Stefanek, September 2019
[3] Ebenda. [Zebrzydowice (dt. Seibersdorf) liegt an der Grenze zu Tschechien in Schlesien. - Anm. der Übers.]
[4] Wie oben.
[5] Maria Kwaśniewska, Talent i serce [Maria Kwaśniewska. Talent und Herz], online auf: www.sportowcydlaniepodległej.pl
[6] Mit der Kalós Kagathós Medaille werden herausragende Sportler geehrt, die sich auch Verdienste jenseits des Sports erwarben. - Anm. d. Übers.]