Magdalena Parys

Magdalena Parys, 2020
Magdalena Parys, 2020

Leicht sind die Themen nicht, mit denen sich Magdalena Parys befasst. Schon als Kind schrieb sie Geschichten und bekam von der Mutter die Frage gestellt: „Warum muss das denn so düster sein?“ Bis heute treiben sie dunkle Kapitel vor allem der deutschen Geschichte um. Ihre Romane „Der Tunnel“ (2011) und „Der Magier“ (2014) beginnen mit Kriminalfällen in der Gegenwart. Die Ermittlungen aber führen zurück in die Untiefen der Geschichte und belegen die peinlich genaue Recherche der Autorin. Letztlich handelt es sich bei den beiden Büchern weder um klassische Krimis noch um Historienromane. Vielmehr erkundet Parys darin anhand geschichtlicher Ereignisse die Abgründe von Systemen, die zwar von Menschen gemacht werden, diese aber zugleich ihrerseits stark prägen. Auch wenn er in ihren bisherigen Romanen lediglich im Hintergrund eine Rolle spielt: Besonders fasziniert ist Magdalena Parys von Reinhard Gehlen, jenem 1902 in Erfurt geborenen Gründer der „Organisation Gehlen“, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorging. Gefördert von der Besatzungsmacht USA leitete Gehlen diesen deutschen Geheimdienst bis 1968. Für Parys verdichten sich in der Person des ehemaligen Generalmajors der Wehrmacht, der unter Mithilfe der amerikanischen Regierung einen antikommunistischen Geheimdienst aufbaute, große Konfliktlinien und Widersprüche des 20. Jahrhunderts. Woher aber rührt das Interesse der Autorin am Kampf der Systeme, wie er im Kalten Krieg fortdauerte?

Geboren wurde Magdalena Parys 1971 in Danzig. Da sich ihre Eltern trennten, als sie noch ein Kind war, wuchs sie sowohl in Danzig-Langfuhr im Haus der Großeltern mütterlicherseits als auch in Stettin im Haus der Eltern des Stiefvaters auf. „Es ist seltsam“, sagt sie zu ihren Kindheitserinnerungen. „Während ich mich an Danzig wie an einen wunderschönen Farbfilm erinnere, ist Stettin für mich im Rückblick schwarz-weiß und trist.“ Magdalena Parys war neun Jahre alt, als von Danzig aus lokale Streiks auf das ganze Land übergriffen. Auslöser war die Erhöhung des Fleischpreises. In den Streiks entlud sich jedoch eine viel tiefergehende Frustration gegenüber dem von vielen als repressiv empfundenen System. Aus ihnen ging die Gewerkschaft Solidarność („Solidarität“) hervor, die sich unter der Führung von Lech Wałęsa zur zentralen reformerischen und revolutionären Bewegung Polens entwickelte. Gerade der Mutter, die zunächst in Stettin Theaterwissenschaften studierte und sich dann zur Grundschullehrerin ausbilden ließ, galt Freiheit als das höchste Gut – und das polnische System als unfrei. Sie stand entschlossen hinter Solidarność. Magdalena Parys hinterfragte als Kind diese Haltungen nicht. Noch nach der Flucht nach West-Berlin dachte sie, alle Menschen in Polen dächten so, wie ihre Mutter. Weil das aber keineswegs so war, beschlossen die Mutter und ihr neuer Lebensgefährte „rüberzumachen“, während Magdalenas Vater als Lehrer in Stettin blieb und sich dort zunehmend für den Umweltschutz engagierte. Der Stiefvater hatte eine deutsche Mutter, die noch während des Krieges im elterlichen Unternehmen einen charmanten polnischen Zwangsarbeiter kennengelernt und später geheiratet hatte. Sie ging mit ihm nach Stettin, das damals noch zu Deutschland gehörte, dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fiel.

Laut Magdalena Parys wurde „Oma Rita“ so in den Augen deutscher Behörden automatisch zur Verräterin, der man die Staatsangehörigkeit aberkannte. Schließlich gelang es ihrem Stiefvater dennoch eine Einladung von deutschen Bekannten nach West-Berlin zu erhalten. Die polnischen Behörden stellten ihm und Magdalenas Mutter die Papiere für den Besuch aus.  

Anders sah das für Magdalena Parys und ihren zehn Jahre jüngeren Halbbruder Michael aus. Sie blieb in Stettin bei den Großeltern und musste wiederholt demütigende Gänge zu den Behörden unternehmen. Dort saßen ihr zufolge nicht gemütliche Beamte sondern Soldaten, die es richtig fanden, ein Kind zu schikanieren, um Druck auf dessen Mutter auszuüben. Ihre Mutter organisierte unterdessen eine Fluchtmöglichkeit für Magdalena und den erst dreijährigen Bruder. Durch Kontakte konnte sie einen Oppositionellen dafür gewinnen, bei einem seiner Grenzübertritte Magdalena und Michael nach West-Berlin zu bringen. Mitnehmen durften sie dabei fast nichts, um nicht das Misstrauen der Grenzbeamten zu erregen. Magdalena Parys erinnert diesen Trip als Alptraum: „Es war kurz vor Heiligabend, die Grenze wirkte ausgestorben, aber Soldaten und Hunde machten mir große Angst. Mein kleiner Bruder war ganz starr vor Furcht.“ Sie erinnert sich daran, wie die Grenzbeamten das Auto ihres „Reiseleiters“ auseinandernahmen, und wie unheimlich die Schäferhunde auf sie wirkten. Sie musste dabei an furchteinflößende Geschichten über die Nazis denken, von denen man sich in Polen viele zu erzählen hatte. Aber alles ging gut und Magdalena Parys kam nach West-Berlin. Die Begeisterung von Mutter und Stiefvater konnte sie jedoch nicht nachvollziehen. Sie vermisste ihre Freunde, ihre Großeltern, ihre vertraute Umgebung. Nun wohnten sie in beengten Verhältnissen in einem Flüchtlingsheim am Tempelhofer Ufer. Der Kühlschrank stand auf dem Flur, Küche und Bad mussten sie sich mit anderen teilen. Von der vielgepriesenen Freiheit merkte Magdalena Parys nicht viel. Im Gegenteil: West-Berlin erschien ihr wie ein großes Freiluftgefängnis, das früher oder später an der Mauer endete. Gerade in ihrer ersten, niederschmetternden Zeit in West-Berlin empfand Magdalena Parys das Lesen und Schreiben von Geschichten als befreiend. Die Weite, die sie im Alltag vermisste, fand sie in der Literatur.

Und schließlich wurde auch das Leben jenseits der Bücher besser und besser. Es dauerte nicht lange, und die kleine Familie konnte eine Wohnung in Rudow beziehen. Wie so oft integrierten sich die Kinder schneller als die Erwachsenen.

Bis die Mutter nach erneutem Schulbesuch und Fabrikarbeit schließlich an einer Waldorfschule angestellt wurde, verging einiges an Zeit. Magdalena Parys besuchte da längst die Gustav-Heinemann-Schule in Marienfelde, an die sie sich bis heute gerne erinnert. „Das war eine tolle Atmosphäre“, sagt sie. „Es gab großartige Lehrer, die meinen Lernwillen noch beflügelt haben. Und einige der Schüler stammten wie ich aus Polen.“

Parys fand schnell Freundinnen. Den einstündigen Schulweg nahm sie gerne in Kauf. Ärgerlich war nur, dass das aus Polen nachgeschickte Zeugnis deutlich schlechtere Zensuren zeigte, als sie tatsächlich gehabt hatte. Eine der typischen Schikanen, mit denen auch die Kinder von „Verrätern“ traktiert wurden. Dem zum Trotz machte Magdalena Parys ein gutes Abitur und studierte anschließend an der Humboldt-Universität Erziehungswissenschaften, Polonistik und Archäologie. In ihrem Studium begegnete sie vielen Menschen mit einem differenzierten Polenbild. Erst später erkannte sie, dass das keineswegs für die Mehrheit der Deutschen galt. „Bis heute gibt es Vorurteile und stark vereinfachende Sichtweisen“, sagt sie. „Ich würde mir wünschen, dass man hier erkennt, wie viele Menschen in Polen weltoffen und liberal sind. Die Regierungspartei PiS steht keineswegs für alle Menschen im Land meiner Geburt.“ 

Schließlich arbeitete Parys als wissenschaftliche Hilfskraft und schreib an einer Doktorarbeit. Das aber wurde ihr zunehmend langweilig und sie verfasste eine Erzählung auf Polnisch. Aus diesem Text wurde schließlich 2011 ihr hochgelobter und vielgelesener Debütroman „Der Tunnel“. Bis es jedoch so weit war, durchlief Parys bereits etliche Stationen ihrer literarischen Karriere. Sie debütierte 2001 im Literaturmagazin „Pogranicza“ und veröffentlichte dort im Lauf der Zeit Gedichte, Erzählungen, Buchbesprechungen und Essays.

Außerdem organisierte sie zusammen mit Isabella Potrykus einen internationalen Literaturwettbewerb und war von 2006 bis 2007 Chefredakteurin der deutsch-polnischen Literaturzeitschrift „Squaws“. Mit dem Erfolg von „Der Tunnel“ begann für Parys das hauptberufliche Leben als Autorin, Feuilletonistin und Podcasterin (unter anderem für „COSMO Radio“ beim WDR). Es folgten 2014 der politisch-historische Thriller „Magik“ (auf Deutsch „Der Magier) und 2016 der Familienroman „Biała Rika“. Dessen zentrale Figur ist „Oma Rita“, die deutschstämmige Mutter des Stiefvaters von Magdalena Parys. Die Bücher wurden in etliche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung von „Magik“ übernahm Lothar Quinkenstein, der auch Werke von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk aus dem Polnischen ins Deutsche überträgt. „Ich bin von seiner Übersetzungskunst völlig begeistert“, sagt Magdalena Parys. „Auch wenn er mir immer ein paar schmutzige Ausdrücke streichen will.“

Fragt man Magdalena Parys nach ihrer Heimat, dann nennt sie heute Berlin, wo sie mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einer Tochter lebt. Sie sagt: „Immer wenn ich länger woanders bin, bekomme ich Sehnsucht nach Berlin. Berlin ist für mich aber auch ein wenig eine polnische Stadt. Die Architektur ist kaum anders als in Danzig oder Stettin.“ Wenn sich Magdalena Parys nach Polen sehnt, dann denkt sie vor allem an das Meer und die Orte ihrer Kindheit. Durch ihre zahlreichen Lesereisen durch Polen hat die Autorin aber auch andere Städte schätzen gelernt, etwa Warschau oder Krakau. Dort ist sie deutlich bekannter als in Deutschland. Mit einem Schmunzeln sagt Parys dazu: „Es scheint fast so, als ob sich die Pol*innen mehr für die Abgründe der deutschen Geschichte interessieren, als Deutsche für historische Thriller, die von einer Frau geschrieben werden.“

So oder so: Parys arbeitet bereits am dritten Teil der Berliner Trilogie, die mit „Der Magier“ begann. Vom Graben in der Vergangenheit und dem Erzählen spannender Geschichten hat sie noch lange nicht genug.    

 

Anselm Neft, Januar 2021

 

Die Autorin im Netz:

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