Jakob Hirschkorn und Halina Zylberberg: Die Lebenswege einer jüdischen Familie aus Łódź
Jakob Hirschkorn kam am 1. Januar 1914 in Łódź zur Welt. Seine Eltern wanderten nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland aus, zunächst nach Darmstadt, dann 1919/20 nach Wawern bei Trier im Grenzgebiet zu Luxemburg. Die Familie, die ursprünglich Herszkorn hieß, stammte aus dem Süden Russlands. Um 1860 zog sie nach Hungersnöten und antijüdischen Pogromen nach Łódź. Dort wurde 1885 Aron Hirschkorn, der Vater von Jakob geboren. Er heiratete die 1887 in Drzewica bei Radom in der heutigen Woiwodschaft Łódź geborene Sara Lachmann. Die Familie war im Textilhandel tätig. Dadurch entstanden Beziehungen nach Darmstadt, wo ein Onkel von Jakob lebte. In Wawern baute sich Vater Aron eine bescheidene Existenz als fahrender Schuhhändler auf. Er kannte die Gegend, weil er als Kriegsgefangener des Ersten Weltkrieges dort war und nach Kriegsende in der Synagoge die einheimischen Jüdinnen und Juden kennen gelernt hatte. Jakob Hirschkorn hatte vier Geschwister. Das Geburtsjahr der ebenfalls in Łódź geborenen älteren Schwester Sophie ist nicht bekannt. Paula kam 1919 in Darmstadt zur Welt, ihr folgten in Wawern Norbert 1921 und zwei Jahre später Erna.
Jakob Hirschkorn erlernte in Saarbücken das Metzgerhandwerk und kehrte 1935 nach der Saarabstimmung nach Wawern zurück. Ab diesem Jahr war die Familie dort ständigen Schikanen ausgesetzt. Die Nazis belagerten regelmäßig das Haus der Hirschkorns und zertrümmerten mindestens dreimal Fensterscheiben. Die SA drang ins Haus ein und erpresste unter Drohungen Geld, Schuhe u. a. 1936 musste Aron Hirschkorn sein Schuhgeschäft schließen.
Nach Luxemburg
Bei Jakob reifte nach einer Festnahme durch die Gestapo und kurzzeitiger Haft in Trier im August 1938 der Entschluss, nach Luxemburg zu fliehen. Er war 24 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt war es kaum noch möglich, legal ins neutrale Luxemburg zu emigrieren, weil insbesondere durch den „Anschluss Österreichs“ die Zahl der jüdischen Flüchtlinge in dem kleinen Land stark angestiegen war. Es gab dort Ressentiments, insbesondere gegen Menschen aus Polen. So lesen wir in einem Bericht der Gendarmerie:
„Es ist zu bemerken, dass Hirschkorn ein jüdischer Flüchtling ist, der gemäß seinem Pass eine nur auf Termin begrenzte Aufenthaltsermächtigung in Deutschland besitzt. Er arbeitet hierlands unter dem Tarife eines normalen Lohnes. Für eine eventuell in Frage kommende Heimbeförderung nach Polen, will der Arbeitgeber sich nicht verbürgen. Indem das Land mit jüdischen Flüchtlingen überflutet ist - die auch in anderen Ländern kein Unterkommen mehr erhalten – und auch sonstwie weitgehend überfremdet ist, sowie der Staat augenblicklich grosse Kosten hat zur Unterhaltung einer Grenzbesatzung zur Eindämmung der Zuwanderung von Flüchtlingen, kann das Gesuch hiesigerseits nicht begutachtet werden.“
Wanderarbeiter
In der Folgezeit duldeten die Justizbehörden Jakob Hirschkorn in Luxemburg, weil er sich bei der jüdischen Hilfsorganisation ESRA für eine Auswanderung nach Paraguay, wo sein Onkel lebte bzw. nach England angemeldet hatte. Er arbeitete in der Landwirtschaft auf verschiedenen Höfen in Echternach, einer kleinen Stadt im Osten Luxemburgs, nahe der deutschen Grenze. Allem Anschein nach war Jakob Hirschkorn eine Art Wanderarbeiter, in jedem Jahr bei einem anderen Landwirt beschäftigt. Die Landwirtschaft war auf Grund des Arbeitskräftemangels fast der einzige Bereich, in dem jüdische Flüchtlinge eine Chance hatten, unterzukommen. Oftmals aber nur zu einem Hungerlohn.
Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht das neutrale Luxemburg. Im September 1941 internierten die Nazis Jakob Hirschkorn zusammen mit weiteren 53 jüdischen Zwangsarbeitenden aus Luxemburg in ein Arbeitslager der „Reichsautobahn“ in der Eifel. Zurück in Luxemburg, deportierten die deutschen Besatzer Jakob Hirschkorn am 17. Oktober 1941 nach „Litzmannstadt“.
Im Ghetto Litzmannstadt
Im Ghetto Litzmannstadt traf Jakob seine Eltern (Sara und Aron) sowie seinen Bruder Norbert wieder. Aron und Norbert waren Ende Oktober 1938 mit weiteren 17.000 polnischen Jüdinnen und Juden aus Deutschland ausgewiesen worden. Von Köln-Deutz waren sie in einem verschlossenen Zug zum deutschen Grenzbahnhof Neu-Bentschen (heute Zbąszynek) westlich von Posen verschleppt und von der SS die letzten Kilometer zu Fuß bis zur Grenze getrieben worden. Vater Aron gehörte zu einer größeren Gruppe, die die polnischen Grenzposten nicht ins Land ließen. Diese Menschen mussten in deutschen Auffanglagern hausen. Mutter Sara, die miterleben musste, wie Nazischergen während der Novemberpogrome 1938 ihr Haus verwüsteten, verließ Wawern im Juni 1939 zusammen mit ihrer jüngsten Tochter Erna und ging zu ihrem Mann nach Neu-Bentschen. Die Deutschen deportierten das Ehepaar später ins Ghetto Litzmannstadt. Die SS ermordete beide 1944 in Auschwitz.
Die Lebenswege der Geschwister
Jakobs Bruder Norbert war in Schwedt/Oder aus dem Kölner Zug geholt und zur Zwangsarbeit in einen Steinbruch verschleppt worden. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen musste er mit 200 anderen jüdischen Gefangenen eines „Sonderkommandos“ Fabriken, Bauernhöfe, Geschäfte und Wohnungen leerräumen, um alles „ins Reich" zu schaffen. Als das Kommando Łódź erreichte, kam Norbert Hirschkorn bei seinen Eltern im Ghetto unter. Ab 1941 war er als Zwangsarbeiter u. a. an den Reichsautobahnen Frankfurt (Oder) - Posen und Breslau - Krakau. Nach 30 Monate dauernder Sklavenarbeit brachten ihn die Deutschen ins KZ Auschwitz. Hier ging die Zwangsarbeit weiter. Am 17. Januar 1945 trieb die SS 3.000 Häftlinge nach Westen ins KZ Blechhammer, wo Norbert Hirschkorn mit anderen Gefangenen fliehen konnte. In einem Transport ehemaliger belgischer Deportierter gelang es ihm, über Luxemburg nach Wawern bei Trier zurückzukehren. Seine Pläne, nach Argentinien bzw. Kanada auszuwandern, gab er 1951 auf, als er in Trier ein Geschäft für Damen- und Herrenstrickwaren eröffnete. In Brüssel hatte er Rita Weinmann kennengelernt, die mit ihren Eltern vor den Nazis aus Berlin dorthin geflüchtet war. Sie heirateten 1953 und bekamen zwei Kinder, Sonia und Ronnie. Norbert Hirschkorn wurde 1963 in den Vorstand der jüdischen Gemeinde gewählt. Er starb am 14. Juni 2002.
Jakobs älteste Schwester Sophie, die 1937 mit ihrem Mann Jakob Schimmel von Wawern nach Köln ging, schoben die Deutschen ebenfalls während der sogenannten „Polenaktion“ Ende Oktober 1938 gewaltsam nach Polen ab. Ihr weiteres Schicksal ist bisher nicht geklärt, möglicherweise wurde das Ehepaar in Majdanek ermordet. Die jüngeren Schwestern Paula und Erna Hirschkorn konnten nach England gerettet werden. Paula Hirschkorn kam am 20. Februar 1939 in Dover an, nachdem sie zwei Tage zuvor ein Visum erhalten hatte. Sie wohnte zunächst bei einer Tante im Londoner East End. Dort kam zunächst auch Erna unter. Da die Wohnung für die Familie zu klein wurde, zogen die beiden Schwestern in eine eigene Bleibe. Kurz nach Kriegsende lernte Paula Chaim Berlin kennen, der aus Vilnius stammte. Er war der einzige Überlebende seiner Familie. Chaim war als polnischer Kriegsgefangener im Stalag VIII A bei Görlitz. Nach der Befreiung ging er wie viele andere nach Schottland. Dort gab es seit September 1939 polnische Militäreinheiten, die Großbritannien im Kampf gegen Nazi-Deutschland unterstützten. Als Chaim Berlin 1946 Paula Hirschkorn heiratete, war er noch Soldat. Zur Feier kamen viele seiner in Schottland stationierten polnischen Kollegen. Paula und Chaim bekamen drei Kinder, Alan, Hilary und Sophie. Chaim Berlin wurde Ingenieur und starb 2006 im Alter von 92 Jahren. Paula Hirschkorn-Berlin starb 2016 im Alter von 96 Jahren.
Erna Hirschkorn erfuhr in Neu-Bentschen, dass sie einen Platz in einem Kindertransport nach England erhalten hatte, sodass auch sie am 13. August 1939 noch aus Nazi-Deutschland fliehen konnte. In London traf sie ihre Schwester Paula wieder. Sie heiratete später den Engländer Edward (Eddy) Binki. Das Ehepaar hatte ebenfalls drei Kinder – Adrian, Leslie und Raymond. Edward Binki arbeitete als Kraftfahrzeugmechaniker und starb 1995. Erna Hirschkorn-Binki starb 2014.
Heirat im Ghetto
Im Ghetto Litzmannstadt heiratete Jakob Hirschkorn am 13. Juni 1943 Halina (Chaja) Zylberberg, geboren am 30. Oktober 1925 in Łódź. Halina war zunächst in der Feldarbeit eingesetzt und musste dann in einer Fabrik arbeiten, die Schuhe und Stiefel für die Wehrmacht fertigte bzw. reparierte. Später war sie in Radegast, der Bahnstation von Łódź, bei Be- und Entladearbeiten eingesetzt. Hier lernte sie Jakob Hirschkorn kennen, der seit Ende 1941 dort arbeitete. Ende August 1944, nachdem die Deutschen weitere ca. 75.000 Menschen in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Chełmno deportiert hatten, kamen Jakob und Halina ins sogenannte „Aufräumkommando", das die Spuren der Nazis im Ghetto beseitigen sollte. Mitte Januar 1945 überlegten Halina und Jakob, sich bei eisiger Kälte im fast leeren Ghetto zu verstecken oder zu fliehen. In dieser Situation erschien ein SS-Trupp und brachte die beiden und andere ins Gestapo-Gefängnis. Hier befreiten sowjetische Soldaten das Ehepaar wenige Tage später am 19. Januar.
In einem bewegenden Interview berichtete Halina später außerdem, dass ihre Familie nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen aus ihrer Kolonialwarenhandlung vertrieben und ins Ghetto gebracht wurde. Dort starb ihr Vater 1940 an Unterernährung. Die Nazis deportierten ihren Bruder 1941, ihre Mutter und eine ihrer Schwestern 1944 nach Auschwitz und ermordeten sie dort. Die jüngere Schwester wurde erschossen, als sie einer Mitgefangenen, die ein deutscher Soldat misshandelte, helfen wollte. Nur die ältere Schwester überlebte das KZ Bergen-Belsen und ging nach Buenos Aires.
Zurück in den Trierer Raum
Am 11. Juni 1945 kamen Jakob und Halina Hirschkorn-Zylberberg über Berlin, Leipzig, Halle und Trier nach Wawern. Sie erhielten erst ab November eine kleine finanzielle Unterstützung und Lebensmittelkarten. Da das Elternhaus von Jakob unbewohnbar war, richteten sie es notdürftig wieder her und wohnten in dieser Zeit bei einer befreundeten Familie. Im Entschädigungsverfahren erklärte Jakob später, im Elternhaus seien „Möbel und Gegenstände restlos gestohlen“ worden. Auf Anordnung der französischen Militärregierung musste ein ehemaliger Polizist den Hirschkorns Möbel und Einrichtungsgegenstände herausgeben. 1946 kam Tochter Ruth in Trier zur Welt, drei Jahre später Sohn Remon. Das Leben in den ersten Nachkriegsjahren „war recht armselig“, sagte Jakob Hirschkorn später. Halina arbeitete als Erntehelferin. Die Lage besserte sich etwas, als er eine Handelsgenehmigung für Schuhe und Vieh erhielt.
Entschädigung
Jakob Hirschkorn erhielt 1951 von der Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung für 39 Monate „Freiheitsentziehung.“ Allerdings verrechnete die Behörde vorher geleistete Zahlungen zum Lebensunterhalt. Für eine schwere Misshandlung im Ghetto durch die SS im Jahre 1943 mit massiven Kopf- und Gesichtsverletzungen erkannte die Kommission eine Erwerbsminderung in Höhe von 30 Prozent an. Keine Entschädigung erhielt Jakob Hirschkorn für die Zwangsarbeit an der Reichsautobahn, weil er keinen schriftlichen Nachweis erbringen konnte. Einen Ausgleich erhielt er jedoch für den erlittenen „Schaden im beruflichen Fortkommen.“ Halina erhielt neben der Haft-Entschädigung für 62 Monate im Ghetto eine Waisen- und eine Erwerbsminderungsrente.
Nach London
Im Jahre 1952 zog Jakob mit seiner Familie nach Konz und eröffnete dort ein Textilgeschäft. 1955 wurden sie deutsche Staatsbürger. Im Londoner Interview sagte Halina, dass nach dem Volksaufstand in Ungarn 1956 eines morgens an zwei Schaufenstern ihres Geschäftes rote Hakenkreuze aufgeschmiert worden waren. Im April 1960 ging die Familie Hirschkorn nach London, weil sich Halina in Konz nicht wohl fühlte, Tochter Ruth erinnert sich an rassistische Beschimpfungen. Jakob Hirschkorn ging zunächst allein nach England, um eine Wohnung zu besorgen. Nach seiner Rückkehr lösten sie das Geschäft auf und verkauften das Haus. Nach fünf Jahren Aufenthalt wurden die Hirschkorns britische Staatsbürger. In London arbeitete Jakob bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahre 1976 in einer koscheren Metzgerei. Halina heiratete 1983 nochmals. Sie starb im Jahre 2001.
Wolfgang Schmitt-Kölzer, Januar 2022
Quellen:
Alan Berlin und Ruth Hirsch (London): E-Mails 2020/21.
Eberhard, Pascale (Hrsg.): Der Überlebenskampf jüdischer Deportierter aus Luxemburg und der Region Trier im Getto Litzmannstadt, Briefe Mai 1942, Saarbrücken 2012.
Heidt, Günter: „Ich wollte nur nach Hause, immer nur nach Wawern.“ Die zweifache Integration des Auschwitz-Überlebenden Norbert Hirschkorn. Jahrbuch Kreis Trier-Saarburg, 2017.
Landesamt für Finanzen (Rheinland-Pfalz), Amt für Wiedergutmachung in Saarburg (LfF-AfW): Entschädigungsakten LEG a 175, VA 71 215 (Halina Hirschkorn, später Kahn), VA 132 878 (Jakob Hirschkorn)
Landeshauptarchiv Koblenz (LHA Ko) Best. 584,2, Nr. 177, 183 sowie 745 – 746.
National Life Stories, Living Memory of the Jewish Community, in partnership with British Library: Interview Halina Kahn, früher Hirschkorn (18.12.1989/08.01.1990), C410/060.
Nationalarchiv Luxemburg (ANLux): J-108-0397715.
Schmitt-Kölzer, Wolfgang, Zeimetz, Ferd.: Verfolgt und unerwünscht: Aus dem Leben des Jakob Hirschkorn. Tageblatt (Luxemburg), 11.06.2020.