Franz Nerowski (1911–1942): Ein Spion aus dem Bund der Polen in Deutschland
Auf die bewegte Geschichte meines Großonkels bin ich durch die Recherche zu meinem Buch „Von Ostpreußen in den GULAG“ gestoßen, dass die Geschichte meiner Großmutter Cäcilie (1923 – 2009) und ihrer Verschleppung in sowjetische Zwangsarbeiterlager erzählt. Während meine Großmutter mir als Kind viel von ihren eigenen Erlebnissen erzählt hat, wurde das Schicksal ihres älteren Halbbruders Franz in meiner Familie nicht thematisiert – zu groß anscheinend das Trauma um seinen gewaltsamen Tod, zu schwierig vielleicht auch die Auseinandersetzung mit der polnischen Identität in meiner Familie, die sich mir in meiner Kindheit immer als „deutsche“ Familie aus Ostpreußen darstellte. Das Schicksal von Franz jedoch ließ mir keine Ruhe, und so habe ich mit Hilfe von Archiven und Gesprächen mit Verwandten in den letzten Jahren das faszinierende Schicksal dieses bewundernswerten Mannes erforscht.
Franz wurde 1911 als zweites Kind der Bauernfamilie meiner Urgroßmutter Ottilie (1891–1953) und Peter Nerowski (ca. 1887–1917) im kleinen Dorf Lengainen/Łęgajny geboren, in dem laut Volkszählung von 1905 557 Menschen wohnten, davon vier Protestanten und 553 Katholiken; als Muttersprache gaben 70 Einwohner Deutsch und 487 Polnisch an. Der Hof der Familie war groß und besaß 47 Hektar bzw. 470 000 Quadratmeter Land – keines der größten Güter Ostpreußens, wo es Höfe der adeligen Grundbesitzer mit mehr als 300 Hektar Land gab, aber ein typisches Gut mittlerer Größe, das eine Familie des oberen Mittelstandes in der konservativ geprägten Gesellschaft des ländlichen Ostpreußens sehr gut versorgte.
Peter Nerowski wird 1917 an der Westfront für verschollen erklärt, und Ottilie heiratet 1919 erneut, den Nachbarn Johann „Jan“ Barabasch (1884–1932), mein Urgroßvater, Vater von Cäcilie und drei weiteren Kindern und Gründungsmitglied im Bund der Polen in Deutschland im Kreis Allenstein/Olsztyn. Johann beeinflusst Franz und seinen Bruder Otto (1910–1945) stark in ihrer Begeisterung für den Bund und alles Polnische; beide werden Ende der Zwanziger oder Anfang der Dreißiger Jahre ebenfalls Mitglied im Bund.
Franz ist von Anfang an sehr aktiv und ein häufiger Gast im Dom Polski, dem polnischen Haus in Allenstein/Olsztyn. Das „Hotel Central“ an der ehemaligen Bahnhofstraße (heute ulica Partyzantów) wurde 1919 von der polnischen Regierung gekauft und beherbergte zuerst die polnische Abstimmungskommission während des Plebiszit im südlichen Ostpreußen 1920, später eine polnische Schule, einen Lesesaal, die Zentrale des Bundes der Polen und des polnischen Pfadfinderkorps Ostpreußen sowie die lokale Filiale der Slawischen Bank im Erdgeschoss. Hier in der Bank findet Franz mit Anfang 20 auch eine Anstellung und lernt über den Bund der Polen auch seine spätere Verlobte Pelagia Stramkowska (1915–2006) kennen, die in der Buchhandlung der polnischen Zeitung von Allenstein/Olsztyn, der Gazeta Olsztyńska, arbeitet.