Emilia Smechowski
Die Suche nach ihrer polnischen Identität einschließlich des Prozesses, sie zu akzeptieren, dauert lange. Sie gesteht, sich als junges Mädchen als Deutsche gefühlt zu haben. Alles Polnische wurde in ihrer Familie aus dem Bewusstsein verdrängt. Erst mit der Zeit nimmt sie dann doch erfolgreiche Menschen polnischer Herkunft wahr. Die ersten beiden sind die berühmten Fußballer Miroslav Klose und Lukas Podolski. Im Studium lernt sie andere Polen kennen, die eine ähnliche Vergangenheit haben wie sie. Sie begreift, dass ihre Migrationserfahrung eine Art‚multiplizierte Biographieʼist, die zig Tausende haben, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre als Kinder aus Polen nach Deutschland kamen. „Kaum war ich selbst etwas aus der Deckung gekommen, sah ich überall andere Polen. Fast jeder Mensch in Deutschland, so schien es plötzlich, hatte polnische Vorfahren. Sogar die Bundeskanzlerin.“[6]
Die Unsichtbarkeit der Polen nimmt Smechowski jedoch schon viel früher wahr, wenn auch noch nicht ganz reflektiert. Schon in der Grundschule fällt ihr auf, dass andere Ausländer deutlich sichtbarer sind. „Nicht nur, weil sie anders aussahen. Sondern auch, weil sie einen Teil dessen, was Heimat für sie war, hier weiterlebten. (…) Kroatische Mütter schwärmten von ihren Sommerhäusern an der Adria. Türkische Mütter pulten gemeinsam auf dem Platz Sonnenblumenkerne, zum Schulfest brachten sie selbstgemachten Börek mit. Meine Mutter wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, einen Bigos zu kochen. Sie buk Quiche.“[7]
Als sie ihre Journalistenlaufbahn beginnt, bemerkt sie, mit welcher Selbstverständlichkeit ihre Kolleginnen und Kollegen, die als Kinder beispielsweise aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren, über ihre Herkunft sprechen. Einige von ihnen waren sogar in Deutschland geboren worden und gingen trotzdem mit ihrer Herkunft und der Pflege ihrer Familientraditionen ausgesprochen natürlich um. Daraufhin erlebt Smechowski in ihrer Schwangerschaft einen Wendepunkt ihrer Suche nach der eigenen Identität. In dieser Zeit beschließt Emilia Smechowski, zur polnischen Sprache zurückzukehren. Sie ist sich sicher, dass die Einwanderungsgeschichte ihrer Familie in der nächsten Generation für immer untergeht, wenn sie diese Sprache nicht im Austausch mit ihrer Tochter pflegt. Sie versucht eine partielle „De-Assimilierung“, wie sie selbst sagt. Dabei geht es ihr nicht so sehr darum, ihre deutschen Erfahrungen künstlich abzulegen, um wieder Polin zu werden. Sondern darum, diesen Teil ihrer alten Persönlichkeit nicht mehr zu verbergen.
Die Integrationsdebatte, die Smechowski in ihrem Buch aufgreift, bezieht sich dabei nicht nur auf die Migrationswelle der Polen nach Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren. Die Probleme mit der Assimilierung und der „Sichtbarkeit“ der Ausländer sind immer noch aktuell, heute vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise. „Es dauerte Jahrzehnte, aber irgendwann drang diese neue Realität durch: Deutschland ist eine Einwanderungsland. Mittlerweile gibt es sogar Politiker, die ‚Integration‘ als Staatsziel im Grundgesetz verankern wollen, wie 1994 den Umweltschutz und 2002 den Tierschutz.“[8]
Bei alledem ist die Integration aber nicht nur eine staatliche Aufgabe, sondern auch eine private Angelegenheit, bemerkt die Autorin. Und obwohl die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten 2017 ihren vorläufigen Höchststand erreichte (laut Ausländerzentralregister sind es über 10 Millionen[9]), gilt immer noch das Paradigma: ein guter Ausländer ist ein unsichtbarer Ausländer. „Ist er sichtbar, dann wird er meist auch als Problem wahrgenommen. Noch immer scheint ethnische Vielfalt ein Symbol für gescheiterte Integration zu sein“, resümiert Smechowski[10] und gibt zu: die Schuld dafür liegt auch bei den Migranten aus Polen, von denen viele versuchen, ihre wahre Herkunft um jeden Preis zu verbergen.
Monika Stefanek, März 2018
Emilia Smechowski, Wir Strebermigranten, Verlag Hanser, Berlin 2017, ISBN 978-3-446-25683-5