Der „Narodowiec“ – eine nationalpolnische Ruhrgebietszeitung
Interessanterweise waren die beiden Herausgeber Michał (Michael) Kwiatkowski und Josef Pankowski wie auch weitere Mitarbeiter in den Jahren zuvor beim „Wiarus Polski“ als Redakteure angestellt oder dort freie Mitarbeiter. Auf den ersten Blick unterschieden sich die Zeitungen inhaltlich denn auch nicht wesentlich voneinander, so dass die Herausgabe des „Narodowiec“ wohl auch nur für Eingeweihte zu verstehen war. So meinte noch 1914 der Polizei-Präsident in Bochum, dass „persönliche Eitelkeiten" zu dominieren (schienen). Kwiatkowski und Brejski, die Hauptleiter und Inszenierer der Polenbewegung im Westen, streiten darüber, wer der radikalere ist, und nehmen jeder für sich die Vaterschaft an dem Polenkongreß in Holland in Anspruch. (Sie glauben) auch in diesem Kampf sich dem Polentum dadurch zu empfehlen, daß sie ihre fortgesetzte Anfeindung der deutschen Geistlichen sich als besonderes Verdienst um die „nationale Sache“ anrechnen lassen.[3] Diese Sicht herrscht bis heute in der deutschen Geschichtsschreibung über diese beiden Zeitungen vor.
Tatsächlich aber waren nicht in erster Linie „persönliche Eitelkeiten“, die es auch gegeben haben mag, und ein Wettbewerb, wer der radikalere Deutschenhasser sei, die Ursache für die Herausgabe des „Narodowiec“, sondern wesentliche Meinungsverschiedenheiten politischer Natur. Der „Narodowiec“ und der „Wiarus Polski“ waren Organe zweier auch in den Herkunftsgebieten der polnischsprachigen Arbeitsmigration existierender konkurrierender politischer Strömungen. Diese vertraten in einigen wesentlichen Punkten unterschiedliche Konzeptionen für die Arbeit unter den polnischsprachigen katholischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des alten polnischen Adels- und Magnatentums mit seinem nationalen Führungsanspruch und den mit ihnen verbundenen politischen Organisationen. Im Unterschied zu diesen sprachen sie sich für die Gleichberechtigung aller Schichten innerhalb der Nation aus. Politisch drückte sich diese Ansicht in der Ideologie des gesellschaftlichen Solidarismus aus: Jede gesellschaftliche Schicht habe innerhalb der Nation wie auch im gemeinsamen nationalen Staat ihre Aufgabe und man müsse deshalb auch jede für sich respektieren und ihre Lebensgrundlage sichern. Einig waren sich ebenfalls beide in dem Ziel, das nationale Gefühl unter den Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu entwickeln und zu festigen. Wesentliches Mittel dazu sei die Gründung polnischer Vereine sowie die Verknüpfung dieser Organisationen zu einer polnischen Gesellschaft „in der Fremde“, wie man die Siedlungsgebiete der Arbeitsmigrantinnen und -migranten nannte. Im Falle der Neugründung eines polnischen Staates sollte so gewährleistet werden, dass eine möglichst große Zahl dorthin übersiedelte. Auch in der strikten antisozialistischen Ausrichtung der Polenbewegung und der Bewahrung und Stärkung des Katholizismus in ihr stimmte man überein. Unterschiedliche Auffassung vertrat man aber darüber, welches Gewicht dem Arbeitercharakter der polnischsprachigen Migration im Ruhrrevier zugebilligt werden dürfe und welche Rolle die politischen Organisationen der National- sowie der sich herausbildenden Christdemokratie „in der Heimat“ unter der Arbeitsmigration „in der Fremde“ spielen sollten. Der Herausgeber des „Wiarus Polski“, Jan Brejski, und infolge dessen die Zeitung[4] selbst, trat für eine weitgehend politische wie auch organisatorische Unabhängigkeit der Arbeitsmigration „in der Fremde“ ein und sprach als Anhänger der in den Herkunftsgebieten bestehenden politischen Strömung der Ludowcy – diese verstand sich als Vertreterin der kleinen Leute – dem Arbeitercharakter der Erwerbsmigration eine zentrale Rolle zu. Nur so könnten die nationalpolnischen Kräfte seiner Meinung nach Einfluss auch auf den klassenbewussten Teil der polnischen Arbeiter*innen „in der Fremde“ gewinnen.
[3] Ebenda, Blatt 134
[4] S. dazu und den weiteren Ausführungen zum Wiarus Polski“ ausführlich: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/wiarus-polsk…