Der „Narodowiec“ – eine nationalpolnische Ruhrgebietszeitung
Am 27.9.1909 meldete der Verwaltungsassistent Weinschenk an das Amt Linden-Dahlhausen (heute ein Stadtteil von Bochum): „Eine neue polnische Zeitung für das Industriegebiet soll vom 1. Oktober ab in Herne erscheinen. Und zwar zunächst dreimal wöchentlich. In der bereits verbreiteten Probenummer des großpolnischen Blattes wird u.a. versichert, daß das Blatt keine Konkurrenz für den lieben Kameraden in der Fremde, den „Wiarus Polski“, sein soll. Dieser dürfte allerdings anderer Meinung sein. Doch das mögen die Irreführer der polnischen Arbeiterschaft unter sich abmachen.“[1] [Herv. i. Orig.]
Ab dem 2. Oktober 1909 erschien dann in Herne mit der ersten regulären Ausgabe des polnischsprachigen „Narodowiec“, auf Deutsch „Der Nationalbewusste“, die angesprochene Zeitung. Sie wurde innerhalb weniger Jahre zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz zu der bis dahin einzigen einheimischen polnischsprachigen Tageszeitung, dem nationalpolnisch und katholisch ausgerichteten „Wiarus Polski“. Alle vorherigen Versuche zur Gründung einer zweiten ähnlichen Tageszeitung waren gescheitert. Der „Narodowiec“ erschien in den ersten Monaten dreimal pro Woche und ab Oktober 1911 täglich. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte er dann mit 11.000 Exemplaren ungefähr dieselbe Auflagenhöhe wie der von Jan Brejski herausgegebene „Wiarus Polski“. Regelmäßig erschien die Zeitung sonntags mit der Sonntagsbeilage „Dodatek niedzielny“ sowie halbmonatlich mit der „Gazetka dla dzieci“ (Zeitung für Kinder) und „Polka na obczyznie“ (Die Polin in der Fremde). Außerdem erschien ab dem 1. Oktober 1913 im Verlag des „Narodowiec“ mit der „Pochodnia“ (Die Fackel) eine illustrierte Wochenzeitschrift, die in kurzer Zeit 2.000 Abonnentinnen und Abonnenten gewinnen konnte. Herne entwickelte sich so durch den Verlag und den Sitz der Redaktion neben Bochum zu einem weiteren Zentrum der ruhrpolnischen Bewegung.
Als der „Narodowiec“ gegründet wurde, lebten im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet über 200.000 polnischsprachige Menschen mit katholischem Hintergrund, von denen sich ein großer Teil als Polinnen oder Polen verstand und die man unter dem Begriff Ruhrpolen[2] zusammenfassen kann. Die Mehrheit von ihnen fühlte sich durch die nationalpolnischen Organisationen des Ruhrreviers mehr oder weniger gut vertreten. Deren Vernetzung war durch die regelmäßige Berichterstattung im bis dahin dominierenden „Wiarus Polski“ und der Bildung sie zusammenfassender regionaler Organisationen weit fortgeschritten. Mit den Jahren wurde aber deutlich, dass mit dem politischen Kurs des „Wiarus Polski“ längst nicht alle einverstanden waren. Diese wachsende Anzahl unzufriedener Personen im nationalpolnischen Lager bildete die Basis des Erfolgs für den „Narodowiec“, der bezüglich der organisatorischen und kulturellen Arbeit unter den Ruhrpolen dem „Wiarus Polski“ in nichts nachstand.
[1] Meldung des Verwaltungsassistenten Weinschenk an das Amt Linden-Dahlhausen vom 27.9.1909, Bochumer Stadtarchiv, A L-D 67, ohne Paginierung
[2] Zur Differenzierung der polnischsprachigen Zuwanderung s.: Wulf Schade, Statt Integration organisierte Ausgrenzung und Verfolgung, Zur Diskussion über die „Integration“ der „Ruhrpolen“, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, Band 117, 2018, S. 155-202, hier: 7. Die polnischsprachige Zuwanderung in ihrer Unterschiedlichkeit, S. 174-186
Interessanterweise waren die beiden Herausgeber Michał (Michael) Kwiatkowski und Josef Pankowski wie auch weitere Mitarbeiter in den Jahren zuvor beim „Wiarus Polski“ als Redakteure angestellt oder dort freie Mitarbeiter. Auf den ersten Blick unterschieden sich die Zeitungen inhaltlich denn auch nicht wesentlich voneinander, so dass die Herausgabe des „Narodowiec“ wohl auch nur für Eingeweihte zu verstehen war. So meinte noch 1914 der Polizei-Präsident in Bochum, dass „persönliche Eitelkeiten" zu dominieren (schienen). Kwiatkowski und Brejski, die Hauptleiter und Inszenierer der Polenbewegung im Westen, streiten darüber, wer der radikalere ist, und nehmen jeder für sich die Vaterschaft an dem Polenkongreß in Holland in Anspruch. (Sie glauben) auch in diesem Kampf sich dem Polentum dadurch zu empfehlen, daß sie ihre fortgesetzte Anfeindung der deutschen Geistlichen sich als besonderes Verdienst um die „nationale Sache“ anrechnen lassen.[3] Diese Sicht herrscht bis heute in der deutschen Geschichtsschreibung über diese beiden Zeitungen vor.
Tatsächlich aber waren nicht in erster Linie „persönliche Eitelkeiten“, die es auch gegeben haben mag, und ein Wettbewerb, wer der radikalere Deutschenhasser sei, die Ursache für die Herausgabe des „Narodowiec“, sondern wesentliche Meinungsverschiedenheiten politischer Natur. Der „Narodowiec“ und der „Wiarus Polski“ waren Organe zweier auch in den Herkunftsgebieten der polnischsprachigen Arbeitsmigration existierender konkurrierender politischer Strömungen. Diese vertraten in einigen wesentlichen Punkten unterschiedliche Konzeptionen für die Arbeit unter den polnischsprachigen katholischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des alten polnischen Adels- und Magnatentums mit seinem nationalen Führungsanspruch und den mit ihnen verbundenen politischen Organisationen. Im Unterschied zu diesen sprachen sie sich für die Gleichberechtigung aller Schichten innerhalb der Nation aus. Politisch drückte sich diese Ansicht in der Ideologie des gesellschaftlichen Solidarismus aus: Jede gesellschaftliche Schicht habe innerhalb der Nation wie auch im gemeinsamen nationalen Staat ihre Aufgabe und man müsse deshalb auch jede für sich respektieren und ihre Lebensgrundlage sichern. Einig waren sich ebenfalls beide in dem Ziel, das nationale Gefühl unter den Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu entwickeln und zu festigen. Wesentliches Mittel dazu sei die Gründung polnischer Vereine sowie die Verknüpfung dieser Organisationen zu einer polnischen Gesellschaft „in der Fremde“, wie man die Siedlungsgebiete der Arbeitsmigrantinnen und -migranten nannte. Im Falle der Neugründung eines polnischen Staates sollte so gewährleistet werden, dass eine möglichst große Zahl dorthin übersiedelte. Auch in der strikten antisozialistischen Ausrichtung der Polenbewegung und der Bewahrung und Stärkung des Katholizismus in ihr stimmte man überein. Unterschiedliche Auffassung vertrat man aber darüber, welches Gewicht dem Arbeitercharakter der polnischsprachigen Migration im Ruhrrevier zugebilligt werden dürfe und welche Rolle die politischen Organisationen der National- sowie der sich herausbildenden Christdemokratie „in der Heimat“ unter der Arbeitsmigration „in der Fremde“ spielen sollten. Der Herausgeber des „Wiarus Polski“, Jan Brejski, und infolge dessen die Zeitung[4] selbst, trat für eine weitgehend politische wie auch organisatorische Unabhängigkeit der Arbeitsmigration „in der Fremde“ ein und sprach als Anhänger der in den Herkunftsgebieten bestehenden politischen Strömung der Ludowcy – diese verstand sich als Vertreterin der kleinen Leute – dem Arbeitercharakter der Erwerbsmigration eine zentrale Rolle zu. Nur so könnten die nationalpolnischen Kräfte seiner Meinung nach Einfluss auch auf den klassenbewussten Teil der polnischen Arbeiter*innen „in der Fremde“ gewinnen.
[3] Ebenda, Blatt 134
[4] S. dazu und den weiteren Ausführungen zum Wiarus Polski“ ausführlich: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/wiarus-polski-eine-polnische-zeitung-aus-dem-ruhrrevier
Im Gegensatz zum „Wiarus Polski“ vertrat Michał Kwiatkowski, der politische Kopf des „Narodowiec“ und damit die Zeitung selbst, eine politische „Bewegung, deren Programm dem der in Polen später entstandenen Stronnictwo Chreścijańskiej Demokracji (Partei der Christlichen Demokratie) entsprach“.[5] Demnach war die Gründung schichtenspezifischer Organisationen wie Handwerksvereinigungen und Gewerkschaften zur eigenen Interessenvertretung zwar erlaubt, radikaler Klassenkampf innerhalb der eigenen Nation dagegen nicht. Die Volksgemeinschaft der Nation hatte immer an erster Stelle zu stehen, weshalb die polnischen Organisationen „in der Fremde“ auch den engen Schulterschluss mit denen „in der Heimat“ zu suchen hätten. Der „Narodowiec“ warf dem „Wiarus Polski“ vor, diesen Schulterschluss häufig zu Gunsten des Klassenkampfes gering geschätzt und damit der Politik der Deutschen in die Hände gespielt zu haben. Dabei sprach er der Polenbewegung in der Provinz Posen, woher Michał Kwiatkowski stammte, ein höheres nationales Bewusstsein als der in den anderen Gebieten aus „der Heimat“ zu. Namentlich die Polenbewegung aus Pommern, woher Jan Brejski stammte, spielte hier, so der „Narodowiec“, eine wankelmütige Rolle, weil sie den Deutschen gegenüber zu nachgiebig gewesen sei: „Die deutsche geistliche Hierarchie wie auch die weltliche Regierungsgewalt bekämpften die nationale Bewegung unter der Auswanderung planmäßig. Als polnische Seelsorger bemühten sie sich, nur Kapläne aus Pommern zu berufen, den Priester Szotkowski und später den Priester Dr. Liss. (…) Die deutsche geistliche Hierarchie war bemüht, die polnisch-katholischen Vereine von den deutsch-katholischen Vereinen abhängig zu machen. Um diese wichtige Frage fand in den Jahren 1893 und 1894 ein Kampf zwischen dem Organ von Priester Dr. Liss [das heißt dem „Wiarus Polski“ – Anm. d. V.] und der Posener Presse statt, die hartnäckig alle Versuche, die polnischen Vereine unter das Kuratel der deutsch-katholischen Organisationen zu stellen, bekämpfte (…). Priester Dr. Liss und seine Nachfolger [das war v. a. Jan Brejski – Anm. d. V.] distanzierten sich auf Druck der Auswanderung von ihrer ersten Absicht“.[6]
In erster Linie sahen sich eher die Polinnen und Polen ohne ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein als Arbeiterinnen und Arbeiter, die sie im Ruhrrevier durch ihre gesellschaftliche Stellung in der Produktion geworden waren, oder die nicht bereit waren, dieses dem Nationalgefühl unterzuordneten, durch den „Narodowiec“ vertreten. Dass das eine bemerkenswerte Zahl war, spiegelte sich in den ähnlich hohen Auflagenzahlen wie der des „Wiarus Polski“ sowie in der Wahl bekannter Vertreter und Anhänger des „Narodowiec“ neben denen des „Wiarus Polski“ in die Gremien der zentralen und regionalen Vereinigungen polnischer Organisationen wider. So waren beispielsweise der Herausgeber des „Narodowiec“, Michał Kwiatkowski, und der des „Wiarus Polski“, Jan Brejski, Mitglied im bedeutendsten politischen Organ der Ruhrpolen kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dem Komitet Wykonawczy (Ausführendes Komitee), das sich als Vertreter aller polnischer Vereine im Ruhrrevier verstand, ebenso wie in der Westfalenleitung des Towarzystwo Czytelni Ludowych (Verein für Volksbibliotheken), der für die Verbreitung und Festigung der polnischen Sprache und Kultur „in der Fremde“ eine bedeutende Rolle spielte.
[5] Ignacy Knapczyk, Wychodztwo polskie i rozwój „Narodowca”, Narodowiec, Jg. 51, Nr. 230 v. 1.10.1959 (Numer jubileuszowy)(Übersetzung: Wulf Schade)
[6] Z historii Wychodztwa [ohne Autor], Narodowiec, Jg. 32, Nr. 1 v. 31.12.1939/1.1.1940 (Übersetzung: Wulf Schade)
Wie die meisten oppositionellen Zeitungen zu Beginn des Ersten Weltkrieges kurzzeitig verboten, hielt sich auch der „Narodowiec“ gleich allen politischen Kräften des Deutschen Reiches, außer den später spartakistisch-kommunistischen, unabhängig-sozialistischen und anarchistisch-syndikalistischen Gruppen, während des Krieges an den vom Kaiser geforderten Burgfrieden. Das bedeutete, die Zustimmung der Polnischen Fraktion im Reichstag, die zu dieser Zeit nahezu alle nationalpolnischen Organisationen als ihre Vertretung im Reich anerkannten, zu den Kriegskrediten zu billigen, wie auch dass man während des Krieges keine politischen oder andere Initiativen zur Änderung bestehender Gesetze oder gegen politische Entscheidungen der Regierung bzw. des Kaisers ergriff. Dieser Burgfrieden wurde aber wenige Monate vor Ende des Krieges, als sich die Neubildung des polnischen Staates als Ergebnis des Krieges abzeichnete, nicht mehr in vollem Umfang befolgt. In einer öffentlichen Erklärung im April 1918 protestierte der „Narodowiec“ zusammen mit den meisten polnischen Organisationen „in der Fremde“ gegen den Friedensschluss des Deutschen Reiches mit der Ukrainischen Volksrepublik, da dieser mit deutscher Zustimmung angeblich polnisches Stammgebiet als Teil ihres Staatsgebietes zugestanden worden sei. In einer zweiten, deutlich brisanteren öffentlichen Erklärung im Oktober 1918 forderte nahezu derselbe Kreis, dass dem sich abzeichnenden zukünftigen neuen Polen die ehemals polnischen, derzeit zu Preußen gehörenden Gebiete – das Posener Gebiet, Teile Pommerns, West- und Ostpreußens sowie Schlesiens – zugesprochen werden müssten.
Mit Beginn der Existenz des neuen polnischen Staates, der Republik Polen ab November 1918, rief der „Narodowiec“ wie die anderen nationalpolnischen Organisationen und Zeitungen zur Rückkehr nach Polen auf. Wie die Deutschen ihren Staat organisierten, sei deren Sache. Dabei betonte er immer wieder die Einheit der polnischen Nation. Der bereits 1919 nach Polen übergesiedelte Chefredakteur des „Narodowiec“ Michał Kwiatkowski, der aber weiterhin seinen Einfluss auf den „Narodowiec“ behielt, unterstützte dort die Christdemokratie und wurde einer ihrer Abgeordneten im polnischen Sejm von 1922 bis 1927. Während aber der „Wiarus Polski“ ganz konkrete Forderungen für die Struktur des neuen polnischen Staates stellte, so z. B. nach Übernahme der in Deutschland durch die Arbeiterschaft erkämpften umfassenden Arbeiterrechte, der Trennung von Kirche und Staat, im Konfliktfalle die durch die institutionelle katholische Kirche verkörperten religiösen Machtinteressen den Arbeiterinteressen nachzuordnen sowie in gesellschaftlichen Konflikten weiterhin klassenkämpferische Methoden akzeptierte, widersprach dem der „Narodowiec“. Er wies alle Forderungen an den neuen Staat zurück, zuerst müssten die zuständigen Verfassungsorgane gewählt werden. Nur diese seien befugt, den gesellschaftlichen Rahmen festzulegen. Gleichzeitig berief er sich aber konsequent auf die Sozialenzyklika der katholischen Kirche, „Rerum Nowarum“, und akzeptierte damit den dort festgeschriebenen gesellschaftlichen Solidarismus als einzig legitime Form politischen Handelns. Darüber hinaus sprach er der katholischen Kirche eine führende moralische Rolle im Staate zu. Ihren Ausdruck fanden die politischen Unterschiede z. B. in der Haltung zur umkämpften Bodenreform in Polen, die auch der „Narodowiec“ für notwendig hielt, und damit verbunden zur Haltung gegenüber dem Adel und den alten Eliten. Während der „Wiarus Polski“ einer konsequenten Agrarreform mit eher symbolischer Entschädigung das Wort redete, trat der „Narodowiec“ für eine gemäßigte Reform mit einer von den Bäuerinnen und Bauern zu tragenden materiellen Entschädigung der Großgrundbesitzer und des Adels ein, die dem Wert des enteigneten Bodens entsprechen sollte. Letzteres unterschied ihn von der Nationaldemokratie, die eine Landreform möglichst klein halten und wenn irgend möglich auf staatliche Ländereien beschränkt wissen wollte. Auch bezüglich der Rechte der verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen im neuen Polen verhielt sich der „Narodowiec“ zurückhaltend. Damit stand er im Gegensatz zum „Wiarus Polski“, der für gleiche Rechte der ethnischen Gruppen eintrat.
Der politischen Entwicklung im neuen, jetzt republikanischen Deutschland stand der „Narodowiec“ deutlich reservierter gegenüber als der „Wiarus Polski“, obwohl beide den Sturz des Kaiserreiches und die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie begrüßten, auch deshalb, weil sie die politischen Handlungsräume für die nationalpolnischen Organisationen erweiterte. Die größere Distanz des „Narodowiec“ zeigte sich in der zurückhaltenden Loyalität zum neuen Deutschland und entsprach damit der ebenfalls bei einem wachsenden Teil der ruhrpolnischen Bevölkerung sichtbar werdenden Distanz. Diese zunehmende Distanz war wesentlich Reaktion auf die weiterhin auch im neuen Deutschland praktizierte Diskriminierung durch die staatlichen und örtlichen Behörden sowie deutschnationalen Kräfte gegenüber den sich als Polinnen und Polen bekennenden Menschen. So trug der „Narodowiec“ recht schnell der Tatsache Rechnung, dass neben der Übersiedlung ins neue Polen ein ständig wachsender Teil der polnischen Arbeiterschaft mit ihren Familien nach Frankreich und Belgien übersiedelte, und errichtete schon 1922 im nordfranzösischen Lens, wo sich das größte französische Kohlerevier befand, eine Filiale seiner Redaktion. Wie groß die Bedeutung der politischen Unterschiede zwischen den durch die beiden Zeitungen „Wiarus Polski“ und „Narodowiec“ vertretenen nationalpolnischen Strömungen war, zeigte sich bei der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen. Während der „Wiarus Polski“ am 16. Januar 1923 einen Aufruf an die Polinnen und Polen in Westfalen und im Rheinland veröffentlichte, in dem die polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter an ihre Pflichten erinnert wurden, die sich aus der deutschen Staatsangehörigkeit ergaben, und die mit ihm verbundene polnische Gewerkschaft ZZP (Zjedoczenie Zawodowe Polskie-Polnische Berufsvereinigung) sich in einer gemeinsamen Erklärung mit den deutschen Gewerkschaften gegen die Ruhrbesetzung und für Boykottmaßnahmen aussprach, tat der „Narodowiec“ das genaue Gegenteil. In seiner Jubiläumsnummer 1959 führte er dazu aus, wobei er in unzulässiger Weise für alle Ruhrpolen sprach: „Die Deutschen entzogen sich beharrlich durch Sabotage und Streiks dieser Pflicht [der festgelegten Mengen von Kohlelieferungen an Frankreich und Belgien – Anm. d. V.], denn für sie war der Versailler Vertrag bereits kurz nach dem Krieg nur ein Stück Papier. Die Absichten Frankreichs wurden durch das besiegte Deutschland durchkreuzt. In dieser Situation half ein Aufruf des „Narodowiec“ an die im Bergbau des Ruhrgebiets zahlreich arbeitende polnische Bevölkerung, die offen die französische Armee unterstützte, weshalb die Deutschen tobten. Der polnische Arbeiter arbeitete weiterhin in den Bergwerken und boykottierte die deutschen Streiks, deren Ziel die Verringerung der Profitabilität der deutschen Industrie im Ruhrgebiet war.“[7]
1924, mitten in der Zeit der „Ruhrbesetzung, verlegte Michał Kwiatkowski die Redaktion des „Narodowiec“ dann im Einverständnis mit der französischen Besatzungsmacht im Ruhrgebiet und der französischen Zentralregierung seine Redaktion endgültig nach Lens in die Rue Émile Zola, wo sie seit dem 12. Oktober bis zu ihrem Ende 1989 erschien. Zurück blieb allerdings noch die von seinem Bruder herausgegebene Zeitung „Naród“ (Volk) mit ähnlicher politischer Grundausrichtung wie der „Narodowiec“. Diese ebenfalls polnischsprachige Tageszeitung, mit deutlich geringerer Auflagenhöhe als der „Narodowiec“, erschien seit 1912, zuerst in Oberhausen, dann später bis zu ihrem Verbot 1939 durch das nationalsozialistische Deutschland in Herne.[8] Der Herausgeber und Chefredakteur, Marian Kwiatkowski, wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo er am 4.12.1941 im Krankenrevier starb.
Wulf Schade, Februar 2020
Literatur:
Wulf Schade, Wiarus Polski – Eine polnische Zeitung aus dem Ruhrrevier, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/wiarus-polski-eine-polnische-zeitung-aus-dem-ruhrrevier?page=1#body-top
Jerzy Kozłwski, Rozwój organizacji społeczno-narodowych wychodźstwa polskiego w Niemczech 1870-1914, Biblioteka Polonijna 18, Wrocław 1987