Błażej Stolarski (1880–1939)
September 1939
Am 2. September 1939 befindet sich Stolarski nach der letzten Sitzung des Senats der Zweiten Polnischen Republik auf der Rückfahrt ins heimatliche Sługocice. Acht Tage später wird er verhaftet und von der Gestapo abtransportiert. Hier verliert sich seine Spur... Die Rede ist von Konzentrationslagern (noch nicht von „Tod“)..., vom Abwurf aus einem Flugzeug über einem unbewohnten Gebiet... 2018, zum 100. Jubiläum der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens, gelingt es einigen „Menschen guten Willens“, Deutschen und Polen, die Umstände des Todes dieses ungewöhnlichen Mannes wenigstens teilweise aufzuklären.
Was ist zwischen dem 10. September und dem 21. Oktober, dem Tag des tragischen Todes von Błażej Stolarski, geschehen? Bekannt ist nur, dass er am 15. September von Berlin nach Oppeln (Opole) gebracht und dort der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) übergeben wurde.[4]
Der Auszug aus den Akten des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) belegt, dass Stolarski an die Möglichkeit der Wiedergeburt eines unabhängigen Polens glaubte, da er dies in Verhören mehrfach unterstrich.[5] Demzufolge konnte er den Deutschen für eine Kollaborationsregierung nach den späteren Mustern in Norwegen (von Quisling) und Frankreich (Vichy) nicht von Nutzen sein. Die Gestapo beschloss daher, den Häftling ihrem Amt in Oppeln zu übergeben. Vermutlich sollte damals in der Nähe der Stadt ein „Sammelkonzentrationslager“ für polnische Intellektuelle eingerichtet werden.[6] Derweil waren Hitlers Pläne zur Ausrottung der „polnischen Führungs- und Intelligenzschichten“ in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten klar beschrieben und wurden seit dem 1. September im Rahmen des „Unternehmens Tannenberg“ und der Aktion „Intelligenz“ exekutiert. Ab Mai 1939 wurden Proskriptionslisten von Polen erstellt, die für das Dritte Reich als besonders gefährlich galten. Dieses „Sonderfahndungsbuch Polen“ enthielt Namen von über 61.000 polnischen Staatsbürgern, darunter Politiker, Geistliche, Wissenschaftler und Künstler, aber auch Abstimmungsaktivisten und Aufständische aus Großpolen und aus Schlesien. Nach dem 1. September 1939 wurde noch eine zweite Proskriptionsliste angelegt, auf der über 21.000 Personen standen. Historiker nehmen an, dass diese beiden Aktionen gegen die Elite der Zweiten Polnischen Republik (September 1939 – Mai 1940) bis zu 100.000 Opfer gefordert haben könnten. 40.000 bis 50.000 Menschen wurden erschossen. Die Übrigen kamen in Konzentrationslagern ums Leben. Ziel der Aktionen war die „Säuberung“ der polnischen Gebiete mit Ausnahme des Generalgouvernements, die inzwischen in das Dritte Reich eingegliedert worden waren, und die Vorbereitung von Umsiedlungen in das Gebiet zwischen Weichsel und Bug. Wurde Stolarski im Zuge dieser Aktionen arrestiert oder erfolgte seine Verhaftung auf Grund einer Denunziation durch Deutsche, wie dies einer der Söhne des Senators behauptet?[7] Das werden wir wohl nie erfahren.
Das nächste ungelöste Rätsel im Hinblick auf den Tod Stolarskis ist eine Stellungnahme von Reichsaußenminister Ribbentrop, der anlässlich der Konferenz in Ilnau (heute Jełowa) am 09.09.1939[8] versucht haben soll, Hitler von der Gründung eines polnischen „Rumpfstaats“ zu überzeugen, der dem Reich vollständig unterstellt wäre. Diese Information stamme aus den Notizen von Oberstleutnant Lahousen, dem Adjutanten des Abwehrchefs Canaris. Das Verhalten der Besatzungsmacht gegenüber Senator Stolarski würde in einem solchen Bezugsrahmen durchaus verständlich sein.
Błażej Stolarski verbrachte also die Wochen vom 15. September bis zum 21. Oktober im Gefängnis in Oppeln sowie vorübergehend auch am Berliner Sitz der Gestapo. Letzteres könnte zumindest erklären, warum der Leichnam des Senators in der Nähe von Groß Köris, kaum 50 km von der Reichshauptstadt entfernt am Rande der Autobahn Berlin–Breslau (Wrocław), aufgefunden wurde.
In der Sterbeurkunde, die das dortige Standesamt am 26. Oktober 1939 ausgestellt hat, wird der Todeszeitpunkt mit 21.10.1939 um 13:30 Uhr angegeben.[9] Dabei ist daran zu erinnern, dass dort auch die Todesursache eindeutig festgehalten wird: „Kopfschuss”. Die genauen Angaben zur Person des Senators (Geburtsdatum und -ort, letzte Wohnanschrift in Polen, Beruf) deuten darauf hin, dass der Ermordete als er starb seine Ausweisdokumente bei sich hatte.
Bis heute ist ungeklärt, warum Stolarski an diesem Tag auf der Autobahn Berlin–Breslau gewesen sei soll. War er nach einem erneuten Verhör auf dem Rückweg nach Oppeln oder hat man ihn auf der Fahrt nach Berlin ermordet? Da es in der Nähe von Oppeln kein Konzentrationslager für polnische Intellektuelle gab, hatte man vielleicht deswegen die Unterbringung des Häftlings in der Sonderzone des KZ Sachsenhausen, dem sogenannten „Zellenbau“ beschlossen?[10] Wenn ja, warum hat man ihn dann zuvor ermordet? Oder, wurde Stolarski Opfer eines inszenierten Fluchtversuchs, der in der Regel mit einem Schuss in den Rücken endete?[11] In seinem Fall haben wir jedoch mit einer regelrechten Hinrichtung zu tun. War sie ein „Arbeitsunfall“ der Gestapo oder doch bewusster Mord? Und wenn es Mord gewesen sein soll, wer war der Auftraggeber?
Einige dieser Fragen könnten vielleicht im Kreisarchiv in Luckau beantwortet werden, das möglicherweise den Bericht über den Fund der Leiche aufbewahrt, aus dem die Angaben in der erwähnten Sterbeurkunde stammen. Womöglich würden die beiden Dokumente mehr Licht in das Geheimnis der letzten Stunden von Senator Stolarski bringen.
Aus den unter diesem Text angeführten Dokumenten erfahren wir, dass der Leichnam von Błażej Stolarski nach Berlin gebracht und dort obduziert wurde. Anschließend wurde die Urne mit seiner Asche auf dem Parkfriedhof im Berliner Stadtteil Marzahn beigesetzt (Grabstätte U-1).[12]
[4] Auszug aus den Akten des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Sign. R58/1082, (siehe Bild unten).
[5] op. cit.
[6] op. cit.
[7] In: Paweł Perzyna, Błażej Stolarski 1880–1939. Biografia społecznika, działacza gospodarczego i polityka, Łódź–Warszawa 2017, 480 Seiten mit einer Fotobeilage mit 16 Seiten, Reihe: Biblioteka Oddziału Instytutu Pamięci Narodowej w Łodzi, Band XLIII, ISBN 978-83-8098-244-4.
[9] Beglaubigte Sterbeurkunde ausgestellt auf den Namen Blasius Stolarski vom 26.10.1939, Sign. S 10 (21/1939). Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Kreisarchivs in Luckau.
[10] „Zellenbau“ – auch „Bunker” genannt. „Dieses ‚Tʻ-förmige Gebäude war vom übrigen Lager abgetrennt und unterstand der Berliner Gestapo-Zentrale. Von dem damaligen Bauwerk ist nur der Westflügel erhalten [...] Man kann sagen, dass der ‚Zellenbauʻ ein besonderes Gefängnis war, in dem politische Gefangene und Offiziere verschiedener Nationalitäten [unter anderem der Anführer der polnischen Heimatarmee, General ‚Grotʻ Rowecki] sowie aufgeflogene Agenten fremder Nachrichtendienste inhaftiert waren, unter ihnen der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Deutschlands, Ernst Thälmann, der Kopf der ‚Bekennenden Kircheʻ, Pfarrer Martin Niemöller, außerdem Georg Elser, der am 8. November 1939 ein Attentat auf Hitler verübte, der ukrainische Politiker und Partisanenanführer Stefan Bandera zusammen mit einer Gruppe ukrainischer Nationalisten, Molotows Enkel Wasilij Kokorin sowie Stalins Sohn Jakow Dschugaschwili, der sich später hier das Leben nahm.“ In: Das letzte Jahr von General „Grot“ Rowecki, online: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/das-letzte-jahr-von-general-grot-rowecki?page=2#body-top
[11] Der zweite Sohn von Błażej Stolarski, der sich in England aufhielt, soll vom Deutschen Roten Kreuz (via Schweiz) die Nachricht erhalten haben, dass Senator Stolarski „auf der Flucht erschossen wurde”, in: Paweł Perzyna, Błażej Stolarski 1880–1939. Biografia społecznika, działacza gospodarczego i polityka, Łódź–Warszawa 2017.
[12] Friedhofsregister, Dezember 1939: Eintrag Nr. 336 über die Beisetzung der Urne am 04.12.1939 unter Angabe des Beisetzungsortes (Abteilung 3 U).