AUSWEITUNG DER KAMPFZONE ODER EINE LANDSCHAFT VOLLER HOFFNUNG? Über die Malerei aus Papier von Joanna Buchowska

Joanna Buchowska, Berlin, 2023
Joanna Buchowska, Berlin 2023

„Nichts vermag den Menschen mehr in die Realität zurückzuführen als an einem fremden und wundervollen Ort anzukommen, an dem niemand bemerkt, dass man sich voller Erstaunen umschaut.“

R. Adams, Unten am Fluss, [1972]

 

„Er war selbstverständlich ein Teil meines Traums, aber auch ich war ein Teil seines Traums.“

L. Carroll, Durch den Spiegel und was Alice dort fand, [1871]

 

Die Malerei wird oft als der am meisten humanistische Bereich der visuellen Kreativität verstanden. Wie kann man sie also knapp definieren? Vielleicht als eine Art Illusorität, als ein Versuch, die Welt durch die Energie, die in Farbe und Form steckt, wahrzunehmen? Bestimmt ist es auch eine Frage der Konvention; denn sie ist materiell, erfordert Wissen und Fertigkeiten. Was kann man über die zeitgenössische Malerei sagen, wenn Kritiker:innen behaupten, dass ihre Zeichen schlecht stehen, während andere die Ansicht vertreten, dass nach Jahren der Installationen, der digitalen Fotografie, der Videokunst, der Körperkunst und des Aktionismus aller Art die jahrhundertealte traditionelle Malerei nun wieder salonfähig wird? Hat die heutige Malerei überhaupt noch Grenzen? Es hat den Anschein, dass seitdem die Künstler:innen neue Einsatzmöglichkeiten dieses Mediums entdeckt haben, die zeitgenössische Malerei nicht mehr durch technische Formen begrenzt wird. Lediglich ihr wesentlichstes Merkmal, nämlich das der Zweidimensionalität, aber auch andere Qualitäten wie Farbanordnung und Komposition bleiben bestehen. Nun ja, ein eigentümlicher Zerfall der Form entspricht wohl dem heutigen Zerfall der Welt. Welche Begabungen sollten die Maler:innen neben Talent und fachlichem Können also noch haben? Vor allem die Fähigkeit, die eigene Individualität zum Ausdruck zu bringen. Die Tücke der Kunst ist zweifellos ihre Wiederholbarkeit, denn alles ist schon gewesen ... Aber das, was bereits in irgendeiner Form existiert hat, kann doch neu interpretiert, anders kombiniert werden. Durch das Aufeinanderprallen von oft gegensätzlichen Elementen kann eine neue Qualität erreicht werden.

Die Collage wurde bereits zu der Zeit des chinesischen Kaiserreichs verwendet, doch als bewusst eingesetztes, künstlerisches Ausdrucksmittel kam dieser Begriff in der modernen Kunst erst mit den surrealistischen Werken von Max Ernst auf. Vereinfacht ausgedrückt ist die Collage die Schaffung einer eigenen Komposition eines neuen Werks, die durch die Kombination von Fragmenten verschiedener Materialien, meist Papier, manchmal auch Stofffetzen, entsteht. Die Collage ist in der Regel eindimensional, kann aber auch reliefartig sein. Die plastische Version ist eine Assemblage, für die Objekte von ihrer ursprünglichen Bestimmung zweckentfremdet werden und sich je nach künstlerischer Vorstellung verändern. „Coller“ bedeutet auf Französisch „kleben“. Aber kann Kleben auch Malen sein? Verwandlung bildet ein Gegengewicht zur Wiederholbarkeit, zur Vermeidung der Versuchung, sich selbst zu zitieren, sie ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Man kann wohl nie gänzlich vorhersehen, welche Auswirkungen ein Bruch mit den technischen Eigenschaften eines vertrauten Mediums und eine damit einhergehende, radikale Veränderung des bisherigen kreativen Prozesses haben werden. Deshalb ist die Entschlossenheit von Joanna Buchowska, eines Tages ihre Komfortzone verlassen zu wollen, alles aufzugeben, was mit dem bisherigen Erfolg, der von ihr praktizierten Staffeleimalerei verbunden war, und neu anzufangen, keine emotionale, die Form hervorhebende, künstlerische Geste, sondern ein beeindruckendes Manifest kreativer Reife. Es hat viele Jahre gedauert bis zu einem solchen Schritt – dazu waren zunächst eine meisterhafte Beherrschung ihres Handwerks (um die sie so mancher Klassiker beneiden könnte!) und dann die Entwicklung einer absolut souveränen Herangehensweise an die bisherigen Leistungen, d. h. das Bewusstsein und der Wiedererkennungswert ihrer individuellen Form, notwendig. Die Verwandlung wird so zu einem Mittel des künstlerischen Überlebens, und die Wahl der Collage, das Malen mit der Collage, ihre Alternative für die Modernität und malerische Unabhängigkeit.

Joanna – das ist Aufrichtigkeit und reinster Enthusiasmus, sowohl im Leben als auch in der Kunst. Hätte sie also angesichts einer sich rasant verändernden Realität unbeweglich bleiben können? Nicht mit diesem Temperament! Ihre Originalität ist ein Gut an sich, das sich der Banalität entgegensetzt. Sie hat ihre Technik verändert, aber nicht die künstlerische Erzählweise. Ihre Kunst zeichnet sich nach wie vor durch eine sinnliche Annäherung sowohl an die dargestellte Welt als auch an die Betrachter:innen aus, die sie mag und respektiert. Und wie zuvor ist auch im aktuellen Werk kein Platz für zwecklose Spezialeffekte, für stilistische Tricks oder für das Auffüllen der Leere mit einem nicht durchdachten Formenspiel. In perfekter Beherrschung des „anvertrauten Materials“ ist sie sich dessen bewusst, was in ihren Bildern geschieht und wozu es dort passiert, weil ihre Kunst stets ihren eigenen Bedingungen folgt.

Ihre neue Kommunikationssprache ist zugänglich und verführerisch, wie es vor nicht allzu langer Zeit das Malen mit Farben war. Indem sie die Wirklichkeit durch das Prisma ihrer eigenen Sichtweise betrachtet, verzichtet sie nicht auf die drei grundlegenden Merkmale der Malerei und, der Theorie von Kandinsky folgend, behält sie den Punkt, die Linie und die Fläche bei. Indem sie Ausschnitte aus Zeitungen, Magazinen, Papier aller Art auf den Bildträger klebt, setzt sie Tusche, Tinte, Marker, manchmal auch Acrylfarbe ein. Natürlich firnisst sie. Manchmal sogar ... mit Nagellack. Wenn man ihre Werke aus der Nähe betrachtet, erkennt man eine hervorragende Komposition, fast ohne Verbindungen. Nun, so funktioniert die absolute Magie ihrer Bilder. Aber was ist eigentlich ein Bild? Die einen lockt es mit seiner monetären Anziehungskraft an, für die anderen hat es den Geschmack eines Abenteuers und einer ständigen Entdeckung der wundersamen Existenz einer Parallelwelt, durch die Joanna Buchowska ohne allgegenwärtige Hektik, mit aufrichtiger Leidenschaft und Ergriffenheit führt. Ohne Worte kommentiert sie diese Welt mit Farbe und Komposition. Schon die Suche nach diesem einen Stück Papier, das für die nächste Vision notwendig ist, wird für sie zu einer äußerst spannenden Wanderung und zum Beginn eines Dialogs mit den Betrachter:innen.

Jeder kreative Prozess ist mit einer ständigen Entscheidungsfindung verbunden. Und obwohl ihre Kunst den klassischen Etiketten entgleitet, verzichtet sie auf ein überintellektuelles Moralisieren, sie will einfach über etwas malen. Zum Beispiel über ihre Faszination für die Landschaft, darüber, wie sie die Landschaft sieht, und ob jene Landschaft ein gutes Gegenmittel gegen die Reizüberflutung in der uns umgebenden Realität sein kann. Die Nachbildung echter Naturorte in ihren Werken weicht vor den Ansichten, die ihre außergewöhnliche Fantasie diktiert, zurück. Oft handelt es sich um eine Vedute oder eine Stadtlandschaft, deren Hauptbezugspunkt ein architektonisches Element ist; manchmal verwendet sie eine Staffage und lenkt dann die Aufmerksamkeit auf eine traurige Figur mit einem seltsamen Gesicht, in dem man nicht immer einen Menschen erkennt. Vielleicht ist es eine Reaktion auf die Anonymität, die vom System aufgezwungen wird? Manchmal stellt sie eine gewöhnliche Situation und manchmal eine paradoxe Gegebenheit dar. Die Frage ist, inwieweit sie die Tradition der Landschaftsmalerei fortsetzt und inwieweit sie über ihren Rahmen hinausgeht? Die Intimität und autobiografische Metapher umschlingt sie mit universellen Themen, die den Kontext der Botschaft erweitern und gleichzeitig nimmt sie sich vor einer in der Kunstwelt allgegenwärtigen Mittelmäßigkeit in Acht. Manchmal sind es kurze Botschaften, manchmal längere Geschichten, die reduziert oder erweitert, aus der Nähe oder aus der Ferne gesehen, von oben, auf Augenhöhe oder von unten dargestellt werden. Ihre Perspektive folgt entweder der Norm oder wird gestört, bleibt konvergent, wie in den klassischen Stadtlandschaften, oder wird durch kontrastierende Farben erreicht, aber im Allgemeinen werden ihre Botschaften nie zu einer einfachen Abbildung. Die Mischung aus realer Welt (realistische Fotoaufnahmen) und künstlerischer Umwandlung drückt die reinste, authentische, malerische Emotion der Künstlerin aus. Der häufige Einsatz von Humor, Kontrast und einer nicht offensichtlichen Zusammenstellung von Zeitungsausschnitten dient dem Zweck, Betrachter:innen in ein faszinierendes Spiel zu ziehen, in dem die Künstlerin sie ihre eigenen Interpretationswege beschreiten lässt. Sie überfällt sie nie mit einer Flut an Information und respektiert deren Entscheidungen, wobei sie eindeutig Offline-Treffen vorzieht: persönlich, zwischen Menschen.

Und das ist genau das, was wir in der verrückten Welt des Internets vermissen und was wir in den Werken von Joanna Buchowska finden, nämlich Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit, eine Art Stille, Abgeschiedenheit und gleichzeitig Achtsamkeit gegenüber der anderen Person. Joanna Buchowska ist geistig wach und fordernd – sowohl gegenüber sich selbst als auch den Betrachter:innen. Dabei meine ich nicht nur vorgebildete Betrachter:innen, denn auch die, die erst beginnen, sich mit Kunst zu befassen, bekommen eine Chance. Indem sie sich stark um Selbstreflexion bemüht, nimmt sie sich nicht aus und nutzt ihr eigenes Bild als selbstironische Wahrnehmung ihrer Position als Künstlerin. Einerseits zeigt sie eine auf behavioristische Reaktionen reduzierte Welt, andererseits eine Sehnsucht nach der verlorenen Hälfte ihrer selbst ... Uns selbst?

Obwohl Joanna Buchowska die kulturelle und ästhetische Depression des 21. Jahrhunderts kennt, ist es ihr gelungen, eine genaue Diagnose zu stellen und mit großer Sensibilität die postpandemische Stimmung zu erspüren: In Zeiten extremer Spannungen und fundamentaler Veränderungen ist der Verlust in ihren Bildern mit einer aufatmenden Bejahung verwoben. Die Betrachtung dieser Bilder ist wie eine Reise ins Unbekannte und doch Vertraute... Mieczysław Porębski sagte einmal mit Blick auf den direkten Kontakt mit der Kunst, dass man mit einem Bild wohnen wollen muss. Ich wohne mit einem Bild von Joanna Buchowska bereits seit einem Dutzend Jahre – immer noch in einer perfekten Symbiose.

 

Magda Potorska, Juli 2023

 

 

Offizielle Seite von Joanna Buchowska
 

https://buch-owska.de 

 

Wichtigste Stipendien und Künstleraufenthalte
 

Käthe Dorsch Stipendium, Berlin 2009

Artist in Residency, Finnland, 2009

Artist in Residency, Bulgarien, 2010

Stipendium, Herrenhaus Edenkoben, 2016

Stipendium Kulturprojekte Berlin, Senatsverwaltung für Kultur und Europa, 2019

Stipendium der Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst, 2020

 

Subjektive Ausstellungsauswahl
 

„Abschied vom nüchternen Tag“/ Galerie DER ORT/ Berlin / Einzelausstellung/ 2008

„KRAJ” – sztuka artystów polskiego pochodzenia/ („DAS LAND“ – Kunst von Künstlern:innen polnischer Herkunft)/ Galeria Sztuki Współczesnej Opole/ Gruppenausstellung/ 2008

„Adalbertstr. 9 + – Muscle Temple Painting Society“/ Helsinki Contemporary/ Helsinki, Finnland/ Gruppenausstellung/ 2012

„was, wenn es umgekehrt wäre“/ Walden Kunstausstellungen/ Berlin/ Einzelausstellung/ 2018

„Buchowska/ Weinsčlucker“/ Kunstverein Familie Montez/ Frankfurt am Main/ Duo mit Sador Weinsčlucker/ 2019

„Die Dritte Hälfte“/ Galerie Martin Mertens/ Berlin/ Einzelausstellung/ 2022

„Vorhersagbarkeit der Freude“/ Till Richter Museum, Schloss Buggenhagen/ Einzelausstellung/ 2022

„Fait accompli“/ Galerie Karin Sachs/ München/ Einzelausstellung/ 2023

„à bout portant“/ Galerie Anna25/ Berlin/ Einzelausstellung/ 2023

„I got The News While“ – Joanna Buchowska im Dialog mit Robert Rauschenberg/ ArtKlub Bonn/ 2023

Mediathek
  • s.l.f.with.cat.

    according.to.G.Courbet, 2019
  • k.gas.p

    2020, 40 x 30 cm
  • chatterbox1

    2021, 50 x 50 cm
  • I'm with you (part II finale)

    2021, 60 x 50 cm
  • pick me up at the apple tree

    2022, 130 x 90 cm
  • happiness is...

    2022, 80 x 70 cm
  • folie a deux

    2022, 100 x 80 cm
  • cold_response

    2022, 60 x 90 cm
  • saturns ring, 2022

    2022, 50 x 40 cm
  • preternatural concern

    2022, 40 x 25 cm
  • unfinished novel

    2022, 40 x 30 cm
  • strategy

    2022, 60 x 90 cm
  • over her shoulder

    2022, 45 x 40 cm
  • wedding planner

    2023, 100 x 80 cm
  • the days have turned

    2023, 130 x 90 cm
  • Iteration

    2023, 50 x 60 cm
  • his house I have never seen

    2023, 115 x 90 cm