Auf den Spuren der Kunst nach dem Schrecken von Auschwitz. Nachbericht einer Studienfahrt.
„[…] die künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung mit unserem Land und unserer Geschichte zu einem festen Platz [zu] verhelfen“[1] sei der Grund, warum sich der Bundestag für die Zyklusreihe „Birkenau“ entschieden habe, so der damalige Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert. Die vier Bilder wurden von dem Künstler Gerhard Richter gefertigt. Sie basieren auf vier Fotografien, die von Gefangenen im Lager Birkenau im Geheimen gemacht worden sind. Sie zeigen, obwohl teilweise verschwommen, Szenen von Gewalt und Terror. Damit sind sie Zeugnisse und Beweise für die Taten der Nationalsozialisten gegen die Menschlichkeit.
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beschäftige Richter schon länger, die historischen Fotografien von 1944 ließen ihn nicht los. Er entschloss sich, sie künstlerisch zu verarbeiten.[2] Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit Auschwitz und der Shoah kontrovers diskutiert wurde und wird. Ist es legitim, Kunst als Mittel der Verarbeitung eines solchen Verbrechens zu nutzen? Diese Frage war Ausgangspunkt einer gemeinsamen Studienreise des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) und Porta Polonica. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienreise „‚Birkenau‘ von Gerhard Richter – Ein Ortstermin“ auch nach einer Woche intensiver Auseinandersetzung mit dem Bilderzyklus nicht alle Antworten auf diese (und weitere) Frage(n) haben finden können.
[1] Online-Dienste des Deutschen Bundestages: Gerhard Richter überreicht Bilder-Zyklus „Birkenau“ dem Bundestag, URL: bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw36-richter-birkenau-525720, zuletzt abgerufen am 17.10.2019.
[2] Mehr Informationen hierzu in dem Artikel „‚Birkenau‘ von Gerhard Richter“ auf der Seite: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/birkenau-von-gerhard-richter, zuletzt abgerufen am 19.12.2019.
Station 1: Berlin oder: der Anfang der Fahrt liegt in der Gegenwart
Es ist schwül an diesem Septembertag in Berlin. Das Wetter scheint zu sagen: Den zwölf Teilnehmenden der Studienreise liegen anstrengende Tage bevor. Innerhalb einer knappen Woche werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über 600 km hinter sich bringen und an drei Orten – Berlin, Oświęcim und Kraków[3] – über die Zusammenhänge von Auschwitz und Kunst sprechen. Was sind das für Menschen, die sich in einem Seminarraum hinter dem Berliner Invalidenpark bei abenteuerlicher Sommerhitze einfinden und so eine Fahrt mitmachen? Einige stammen aus dem Kultursektor, andere leisten Gedenkstätten- oder Bildungsarbeit, sollen Input über den Umgang mit Erinnerungskultur sammeln oder sind (kunst)historisch interessiert. Ein großer Teil ist vorher noch nicht in dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau gewesen.
Das erste Gespräch im Seminarraum dreht sich um Schlagworte wie „Empfindsamkeit des Ortes“, „Kunstinteresse“, „Erinnerungskultur“ oder „moralische Verpflichtung“. Nicht Wenige haben auch ein persönliches Interesse an dem Ort oder damit verbundenen Geschichten, bspw. die Verfolgung von Homosexuellen. Dem unterschiedlichen inhaltlichen Vorwissen der Teilnehmenden zum Thema wird mittels zweier Vorträge über Polen, die Zeit zwischen 1933 und 1945 und die Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau begegnet.
Der zweite Tagespunkt führt die Gruppe schließlich in das Herz der deutschen Demokratie: das Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages. Nach einführenden Worten von Dr. Jacek Barski, Leiter von Porta Polonica, zum Künstler Gerhard Richter im Allgemeinen und dessen Werk „Birkenau“ im Besonderen haben die Teilnehmenden Zeit und Raum für die eigene Rezeption und weitere Rückfragen. Natürlich begutachten sie genau die dort hängenden digitalen Versionen: Die vier großformatigen Bilder hängen übereinander und vergleichsweise hoch im Besucherfoyer – einige Menschengruppen ziehen daran vorbei, um in den Plenarsaal zu gelangen. Die wenigsten Besucherinnen und Besucher scheinen sich die Bilder anzusehen. Diskussionen – auch über die Art der Präsentation – entbrennen und werden noch bis zum Tagesabschluss beim gemeinsamen Abendessen geführt oder sogar für den Rest der Woche ein Dauerthema bleiben. Gerade der Umstand, dass die Bilder im Bundestag und damit im Zentrum der deutschen Demokratie hängen, zeugen von ihrer politischen Relevanz. Wer entscheidet aber, woran und auf welche Art an den Holocaust gedacht wird?
Ebenfalls kritisch betrachten die Teilnehmenden, dass die fotografischen Vorlagen für Gerhard Richters Werk in einem anderen Korridor des Besucherfoyers hängen. Dabei ist die Tragweite des Bilderzyklus nur erkennbar, wenn die Fotografien direkt neben den Gemälden ausgestellt werden. Für die Teilnehmenden ist die gegenwärtige Präsentation deswegen zumindest fragwürdig: Gehen die Bilder und damit der transportierte Inhalt auf diese Weise verloren?
[3] Die im folgenden verwendeten Ortsnamen zeigen die politische Zugehörigkeit des Ortes an. Taucht der Name Oświęcim auf, ist die unter polnischer Regierung stehende Stadt gemeint.
Station 2: Oświęcim oder: Kunst ist Dokumentation ist Emotion
Die Diskussionen um die erste Station der Reise können auf der langen Busfahrt von Berlin nach Oświęcim ausgiebig erörtert werden. Der in Kleinpolen gelegene Ort an dem Fluss Soła ist heute dafür bekannt, dass die deutschen Nationalsozialisten am Westrand der Stadt ab 1940 das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau betrieben haben. Die Verknüpfung des Ortes mit dem Konzentrationslager, welches im öffentlichen Gedächtnis stellvertretend für den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen an der Menschlichkeit steht, ist eng.
Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Stadt beginnt aber nicht erst mit der Errichtung des Lagers 1940 – deswegen besuchen die Teilnehmenden zunächst den Ort selbst mit seinem Stadtkern und der aus dem Mittelalter stammenden Burg. Dort findet sich das Centrum Żydowskie w Oświęcimiu (Jüdisches Zentrum in Oświęcim) mit der Chewra Lomdei Misznajot Synagoge, die Begegnung-, Gebets- und Informationsstätte in einem sind.[4] Bei der Führung erfahren die Teilnehmenden von der jüdischen Besiedlung seit dem 16. Jahrhundert und dem Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zum Ort, den sie selbst Oshpitzin nannten. Sie erfahren auch von dem dunklen Kapitel der Stadt mit Beginn des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung des Landkreises durch die deutsche Wehrmacht – und schließlich der systematischen Vernichtung von über einer Million Menschen ab 1941 im KZ Auschwitz. Im Jahr 2000 verstarb der letzte in Oświęcim lebende Jude. Seitdem existiert keine eigene Gemeinde in der Stadt.[5] Die Menschen, die heutzutage zum Gebet in die Synagoge kommen, sind Touristen und Besucher der Stadt – also zumeist der Gedenkstätte. Die Reiseteilnehmenden sind sichtlich betroffen von dem, was sie da hören; vor allem von den Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte. Zahlreiche Dokumente der Bewohnerinnen und Bewohner geben Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Besitzer.
Der zweite Tag beginnt sehr früh und diesig. Es soll auf das Gelände der Gedenkstätte gehen. Innerhalb der Tour erhalten die Teilnehmenden einen Einblick in die Lagerstruktur, die Umstände der Unterbringung und der Ermordung der KZ-Häftlinge. Bevor es jedoch dorthin geht, führen Bartholomäus Fujak, pädagogischer Mitarbeiter des IBB, gemeinsam mit dem aus dem Ort stammenden Busfahrer die Gruppe in den angegliederten Stadtteil Harmęże. Es geht vorbei an morgendlich-verschlafenen Häusern und spätsommerlichem Grün.
Die Gruppe hält einige Minuten später vor einer Kirche. In der Franziskanerkirche befindet sich eine wahre Perle: die Ausstellung des ehemaligen KZ-Häftlings Marian Kołodziej. Kołodziej hat seine Erfahrungen im Lager – er kam als einer der Ersten dorthin und überlebte Auschwitz – in zahlreichen Bildern verarbeitet.[6] Es sind Bleistift- und Grafitzeichnungen, die auf verschieden großen Untergründen gemalt worden sind. Die Ausstellung befindet sich in einem engen Kellergewölbe. Das Licht offenbart die verzehrten, hageren Gesichtszüge so vieler Gefangener, die als Schatten ihrer Selbst oftmals den als wilde Tiere dargestellten SS-Mitgliedern gegenübergestellt sind. Einige Portraits zeigen Kołodziej selbst, erkennbar an seiner tätowierten Häftlingsnummer: 432. Kołodziej wollte mit seinen Bildern nicht nur Zeugnis ablegen, sondern den Häftlingen des KZs auch ihre Identität und Existenz zurückgeben. Nach der Führung haben die Teilnehmenden auch hier Zeit, alleine durch die Ausstellung zu gehen. In den anschließenden Gesprächen auf dem Weg zum Bus und der Fahrt zur Gedenkstätte schwankt der allgemeine Eindruck zwischen Erschlagenheit aufgrund der Menge an Eindrücken und Bewunderung für den Künstler.
[4] Weitere Informationen zu der Institution finden sich auf der Webpräsenz des Zentrums: https://ajcf.pl/en/museum/, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
[5] Vgl. Olga Mielnikiewicz: Oświęcim. Historia społeczności, Link: https://sztetl.org.pl/pl/miejscowosci/o/546-oswiecim/99-historia-spolecznosci/137813-historia-spolecznosci, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
[6] Vgl. ausführliches Portrait des Überlebenden und Künstlers Kołodziej: Monika Mokrzycka-Pokora: Marian Kołodziej, in: culture.pl, Link: https://culture.pl/pl/tworca/marian-kolodziej, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
Im Anschluss geht es für die Teilnehmenden auf das Gelände des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau/Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau (PMO). Dort durchlaufen sie im Rahmen der Führung die Ausstellung: Dabei geht es nicht nur inhaltlich durch die Lagergeschichte, sondern auch räumlich einmal quer über das Areal. Die roten Backsteinbauten der Baracken leuchten in der Nachmittagssonne – es ist ein merkwürdiger Gegensatz zu der hier ereigneten und gezeigten Geschichte. Die Räume sind jeweils mit verschiedenen Besuchergruppen gefüllt. Zu den „Höhepunkten“ gehören die Räume mit den Sammlungen der persönlichen Gegenstände der Inhaftierten, die ihnen bei ihrer Ankunft in dem Konzentrationslager abgenommen wurden. Die Berge an Koffern, Schuhen oder Kämmen, teilweise beschriftet mit den Namen ihrer Inhaber, treffen die Teilnehmenden auf emotionaler Ebene. Besonders eindrücklich sind die geschorenen Haare der Inhaftierten, die als ein schier endlos scheinender Haufen als Exponat ausgestellt werden.
Weitere Punkte sind das Krematorium und der Block 11 (der Todesblock). Die Spuren der Inhaftierten finden sich in den fotografischen Portraits, in Zeichnungen, ihren Gegenständen.
Anders als die Führung auf dem Gelände im Stammlager Auschwitz gestaltet sich die Tour im drei Kilometer entfernten Birkenau. Gegen die engen Gassen und die aneinander gereihten Backsteinbaracken wirkt die Fläche von Birkenau umso riesiger. Die wenigen Holzbaracken verstärken den Eindruck unvorstellbarer Größe. Spuren der Häftlinge finden sich aber auch hier; in Schnitzereien oder Malereien der inhaftierten Menschen in den Holzwänden der Baracken. Spuren finden sich aber auch in den ehemaligen Effektenlagern, die in der Lagersprache auch „Kanada“ genannt wurden und wo die Ankommenden ihr Hab und Gut abgeben mussten.[7]
Für die Reisegruppe ist der Abschnitt in Birkenau im Hinblick auf Gerhard Richter und seinen Bilderzyklus besonders wichtig: Sie besuchen die Stelle, an denen die heimlichen Fotografien vor über 70 Jahren aufgenommen wurden. Sie erhalten einen Eindruck von dem Areal, welches geradezu friedlich innerhalb der Birken dar liegt. Entsprechende Informationstafeln erinnern an die Verbrechen, die hier stattgefunden haben, und verweisen auch auf die Fotografien, die Gerhard Richter im Jahr 2014 als Vorlage für seine künstlerische Auseinandersetzung verwendet hat. Spätestens hier schließt sich der inhaltliche Kreis der Studienfahrt für die Teilnehmenden.
Zusätzlich zu der Tour erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienfahrt Einblicke in Kunstsammlung der Gedenkstätte. Diese ist nicht Teil der regulären Dauerausstellung, sondern kann separat gebucht werden.[8] Dort finden sich Kunstwerke vier verschiedener Kategorien: legale Auftragsarbeiten im Lagerkontext, halblegale Bilder für private Zwecke (meist von SS-Männern), private und illegale Werke sowie Werke, die nach dem Kriegsende entstanden. Tausende Objekte sind im Fundus der Gedenkstätte, einige zu wertvoll im ideellen und erinnerungspolitischen Sinne, als dass sie ausgestellt werden können. Dazu gehören Kunstwerke von beruflichen Künstlern genauso wie von Laien-Künstlern, aber auch heimlich gefertigte Kunst, die das Leid der Häftlinge dokumentieren und den Gefangenen als Ventil dienten. Auch Auftragsarbeiten für die SS-Kommandeure und -Männer sind erhalten. Sie werden genauso aufbewahrt und ausgestellt wie Portraits, die von Josef Mengeles[9] Opfern gezeichnet werden mussten.[10] Doch sind die Gegenstände damit noch Kunst? Eine Frage, die von Guide und Teilnehmenden im Angesicht der fraglichen Gegenstände diskutiert wird. Dahinter stehe aber die eigentliche Frage, woran wir Kunst messen. An dem finanziellen Wert oder der Art der Technik, die der oder die Künstler/in angewendet hat? Vielleicht, so regt der Mitarbeiter der Gedenkstätte an, müsse man die Kunstgegenstände, egal welcher Kategorie sie entstammen, eher als Dokumente der Zeit sehen?
[7] Vgl. Israel Gutman, Michael Berenbaum: Anatomy oft he Auschwitz Death Camp, Washington D.C 1994, S. 251f.
[8] Vgl. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau: Wystawa sztuki w byłej kuchni obozowej, Link: http://auschwitz.org/muzeum/zbiory-historyczne/wystawa-sztuki-w-bylej-kuchni-obozowej/, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
[9] Josef Mengele (1911-1979) war KZ-Arzt für das sog. Zigeuner-Lager sowie das Frauenlager. Dort war er unter anderem an der Selektion beteiligt und schickte auf diese Weise Tausende in den Tod. Er führte darüber hinaus pseudomedizinische Experimente an KZ-Häftlingen durch, die ebenfalls häufig tödlich endeten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelang ihm die Flucht dank eines Pseudonyms nach Südamerika. Vgl. hierzu Franz Menges: Art. Mengele, Josef, in: NDB 17 (1994), S. 69-71.
[10] Weitere Informationen zu den Exponattypen finden Sie hier: http://auschwitz.org/muzeum/zbiory-historyczne/sztuka/, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
Insgesamt drei Tage verbringen die Teilnehmenden in Oświęcim und in Auschwitz-Birkenau. Die vielen Eindrücke entladen sich in den allabendlichen Gesprächen, die sich natürlich um Kunst drehen, aber auch um Gedenkstätten wie die Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau. Doch allgemein geht es – ähnlich wie in Berlin schon – darum, wie wir mit den Erinnerungen an die Shoah umgehen. Schlagworte wie „Histotainment“[11] fallen: Die Gedenkstätte in Auschwitz ist sehr gut besucht. In Anbetracht der Menge an Interessierten stellt sich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Frage, aus welchen Gründen die Menschen das Museum besuchen. Spielt historisches Bewusstsein eine Rolle oder ist das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau nur ein weiteres „Must-See“ auf der Liste der Touristen-Aktivitäten für Südpolen? Wer hat überhaupt Zugang zu historischem Wissen und authentischen Orten? Sind Menschen, die mit ihrer Familie samt (Klein)Kindern kommen und die die Tragweite des Ortes noch nicht erfassen können, zu verurteilen? Weitere Gespräche drehen sich um die Art der Ausstellung, den Aufbau und die Trägerschaft der Gedenkstätte und darum, wie die Geschichte am authentischen Ort, welcher Sinnbild und Symbol für die Schrecken der Nationalsozialisten ist, transportiert wird. Entgegen der Vermutung vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat für viele die Kunstausstellung in Harmęże den Schrecken in Auschwitz plastisch näherbringen können als die Authentizität des Ortes. Es sei natürlich keine Entweder-Oder-Frage zwischen authentischem Ort und der Kunstausstellung, sondern zeige eher die Möglichkeit der Kunst, emotional zu berühren.
Noch größer als die Frage, welche Rolle der authentische Ort Auschwitz spielt, ist die Ausgangsfrage, die bereits in Berlin gestellt wurde: Darf Kunst das? Was unterscheidet die Werke von Kołodziej und Richter? Während der eine selbst Auschwitz erleben musste, schaut der andere aus einer retrospektiven Betroffenheit auf die Shoah. Der eine möchte Identität wiedergeben und Zeugnis ablegen, der andere Trost spenden. Während die Bilder von Kołodziej plastisch erfahrbar sind, ist für den Bilderzyklus von Richter der Kontext entscheidend. Erst mit den Fotografien von 1944 könne die immanente Botschaft verstanden werden, so der Konsens der Teilnehmenden. Erneut stellt sich also die Frage, wie im öffentlichen Raum an die Shoah erinnert wird und welche Rolle der Ort dafür hat. Könnten die Bilder von Kołodziej auch außerhalb des Zentrums funktionieren? Zum Beispiel im Bundestag, anstelle des Birkenau-Zyklus? Es entbrennt eine hitzige Diskussion über die Qualität von künstlerischen Arbeiten, von der Angemessenheit von Kunstwerken zum Thema der Shoah und wer überhaupt entscheidet, was qualitative Kunst ist. Schlussendlich einigen sich die Gemüter auf Folgendes: Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob Kunst Auschwitz thematisieren kann.
[11] Damit ist die zunehmende Eventisierung von Medien historischem Inhalts gemeint.
Station 3: Kraków oder: Epilog
Nach vielseitigen, lehrreichen, aber auch anstrengenden Tagen endet die Fahrt für die Teilnehmenden im nur eine Stunde entfernt liegenden Kraków, der ehemaligen Königsstadt. Die Altstadt mit ihren Touristen scheint hunderte Lichtjahre entfernt von dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau zu sein. Doch auch in der Stadt mit der glanzvollen Vergangenheit finden sich an vielen Orten Spuren der Verfolgung von Jüdinnen und Juden, vom Schrecken der Shoah und von künstlerischem Umgang damit. Einen letzten Höhepunkt bildet schließlich das Treffen mit der Auschwitz-Überlebenden Lidia Maksymowicz, die eines der Kinder gewesen ist, die Josef Mengele unter dem Vorwand der Medizin misshandelt hat. Lidia Maksymowicz sieht sanft lächelnd der gespannten – und ehrfürchtigen – Gruppe entgegen, die sich im Żydowskie Muzeum Galicja (Jüdischen Museum Galizien) getroffen hat. Im Laufe ihrer Erzählung merkt man, dass sie geübt darin ist, ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines Mädchens, das, soweit die Geschichtswissenschaft es weiß, Auschwitz am längsten überlebt hat. Ein Mädchen, das nach der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 bei einer Familie im Ort aufwächst und erst Jahre später ihre, mittlerweile in der damaligen Sowjetunion lebende, leibliche Mutter wiedertrifft. Doch es sind wider Erwarten nicht die Stellen emotional berührend, in denen Lidia Maksymowicz von Mengele oder Schreckensfiguren wie Amon Göth[12] erzählt, sondern vielmehr ganz alltägliche und für uns selbstverständliche Augenblicke wie z. B. die Tatsache, wie es war, das erste Mal seit Jahren alleine in einem warmen Bett aufzuwachen. Und es sind solche Aussagen, die die Tränen in die Augen der Menschen im Raum treiben.
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind lebende Beweise vergangener Ereignisse. Doch auch sie verschwinden allmählich. Was bleibt?
Die eigentliche Frage ist aber: Wie können wir gegen das Vergessen vorgehen? Die Bildungsfahrt von IBB und Porta Polonica hat zumindest das gezeigt: Die Diskussion und Betrachtung von Kunst ist vielleicht ein guter Start, um diese drängende Frage zu beantworten.
Andrea Lorenz, Januar 2020
[12] Amon Leopold Göth (1908-1946) war SS-Kommandant des Zwangsarbeiterlager Krakau-Plaszow. Vgl. zu Göth und dem Zwangsarbeiterlager Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, S. 379f.
Weiterführende Links:
Centrum Żydowskie w Oświęcimu: https://artsandculture.google.com/partner/the-auschwitz-jewish-center
IBB: https://ibb-d.de/
Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau: http://auschwitz.org/en/
Online-Ausstellung Marian Kołodziej: http://harmeze.franciszkanie.pl/ausstellung-von-marian-kolodziej/
Literatur
Barski, Jacek: ‚Birkenau‘ von Gerhard Richter, Link: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/birkenau-von-gerhard-richter, zuletzt abgerufen am 19.12.2019.
Curilla, Wolfgang: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011.
Gutman, Israel; Berenbaum, Michael: Anatomy oft he Auschwitz Death Camp, Washington D.C 1994.
Menges, Franz: Art. Mengele, Josef, in: NDB 17 (1994), S. 69-71.
Mielnikiewicz, Olga: Oświęcim. Historia społeczności, Link: https://sztetl.org.pl/pl/miejscowosci/o/546-oswiecim/99-historia-spolecznosci/137813-historia-spolecznosci, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
Mokrzycka-Pokora, Monika: Marian Kołodziej, in: culture.pl, Link: https://culture.pl/pl/tworca/marian-kolodziej, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.
Online-Dienste des Deutschen Bundestages: Gerhard Richter überreicht Bilder-Zyklus „Birkenau“ dem Bundestag, URL: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw36-richter-birkenau-525720, zuletzt abgerufen am 17.10.2019.
Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau: Wystawa sztuki w byłej kuchni obozowej, Link: http://auschwitz.org/muzeum/zbiory-historyczne/wystawa-sztuki-w-bylej-kuchni-obozowej/, zuletzt abgerufen am 7.1.2020.